Andrea Benz – Who I Am

Andrea Benz – Who I Am

Brust oder Bein?

Diese Auswahl, die üblicherweise von Menschen, die gerade Geflügel tranchiert haben, angeboten wird, gehört zwar nicht zu den üblichen Textbausteinen des Country-Repertoires, aber bei den beiden Künstlerinnen Andrea Benz und Whitney Rose liegt sie nahe. Die beiden sind nicht vom gleichen Schlag.

Obwohl sie sich demselben Musikgenre verschrieben haben, unterscheiden sich ihre Ansätze deutlich. Die in Nash­ville lebende Andrea Benz (33) aus Zürich-Höngg macht das im Lied Stand For My Country von ihrem am 16. September 2022 erschienenen Debütalbum und bei dessen Titel „Who I Am“ unmissverständlich klar. Ihr Herz gehört der neotraditionellen Spielart. Anders die Kanadierin Whitney Rose (36), die ihr Country-Heil in der ganzen Vielfalt des Genres sucht und dort auch mancherorts findet. Diesen Sommer konnte man beide, unabhängig voneinander, live erleben auf hiesigen Bühnen: Andrea Benz im Juni bei zwei Gelegenheiten, Whitney Rose am 2. September 2022 im Alten Schlachthaus in Laufen/BL. Die eine solo und akustisch, die andere mit einer erstklassigen dreiköpfigen Band aus gestandenen Austin-Veteranen (Noel McKay, der Singer/Songwriter aus Lubbock, an der Leadgitarre, Brad Fordham amBass und Lisa Pankratz am Schlagzeug) im Rücken.

Genauso wie ihre Auftritte unterscheiden sich auch die aktuellen Alben der beiden. Whitney Roses „We Still Go To Rodeos“ erschien, just bevor die Pandemie ausbrach, und wurde gleich darauf von den Naturgewalten überspült. Das macht es zu einem weiteren dieser „lost albums“ durch Corona, die man jetzt, wo sich die Dinge wieder normalisieren, nachträglich neu entdecken kann – und in diesem Fall auch sollte. Andrea Benz’ „Who I Am“ kam soeben, nachdem das Gröbste überstanden scheint, heraus, und seiner Verbreitung stehen zumindest absehbar keine weltweiten Naturkatastrophen im Weg.

Das Timing ihres Plattendebüts ist für die Schweizer Singer/Songwriterin und Gitarristin, die ihre Musik in 13 Stücken austeilt, ungleich günstiger ausgefallen. Ihre Präsentation – musikalisch wie auch persönlich – ist eine durchweg geglückte. Das zeigt auch ihre aktuelle Radiosingle I Did It Anyway, wo sie sich widerstandsfähig und als Kämpferin näher vorstellt, die nicht so schnell von einem Ziel abzubringen ist. Weil das ihr wahrer Charakter ist, klingt der Ohrwurm auch so überzeugend gut, dass er es derzeit zu bester Sendezeit regelmässig auf die Abspielliste des grössten deutschsprachigen Schweizer Radioprogramms schafft. Eine gute Portion Glaubwürdigkeit mit eingängigem Sound überzeugend vorgetragen war noch nie ein Nachteil bei einem Musikstück. Hüben wie drüben.

Mit etwas Hilfe von Nashville Hall of Famer Charlie McCoy gelingt der Country-Blues – That’s How A Country Girl Gets The Blues – vortrefflich. Deftige Honkytonk-Stimmung kommt bei bei Horses, Harleys, Honky Tonks And Him auf. Als Kreuzworträtsel wären beide Lieder allerdings ungeeignet. Zu offensichtlich, was kommt. Das ist vielleicht die einzige Schwachstelle dieses Albums: Es folgt zu sehr dem ungeschriebenen Nashville-Mainstream-Lehrbuch der 1990er-Jahre. Das macht es zwar sehr eingängig, und Andrea Benz liefert gesanglich in jedem Song ab, aber es fehlt dadurch ein wenig das Überraschungsmoment. Die herrliche Ballade Out Of His Mind scheint perfekt – wenn man nicht Englisch kann. Wenn man jedoch dem Text Vers um Vers folgt, krankt sie etwas daran, dass sie Szenenbilder nur abbildet, anstatt sie heraufzubeschwören vor dem geistigen Auge der Hörerschaft. Die ganz hohe Schule des Country-Songwritings. Dagegen muss man zur Beurteilung der herrlichen Honkytonk-Nummer 20/20 Vison beispielsweise zu Sugarlands grossem Hit Baby Girl (2004) zurückspulen als Vergleich. Oder zu Sara Evans’ Suds In The Bucket aus dem gleichen Jahr, um den Sound und den Gesang auf dem Album einzuordnen. Das sind die oberen Plattenregale des Nashville-Mainstreams.

Andrea Benz ist eines dieser seltenen „Girls with Guitars“, die es verstehen, mit Instrument und Stimme gleichermassen gut umzugehen. Obwohl sie mit wachem, nach vorn gerichtetem Blick und Geist ganz im Hier und Jetzt steht, hat sie sich für ihr Debütalbum stilistisch bewusst am neotraditionellen Stil der späteren 1990er-Jahre orientiert, jenem Sound, an dem ihr Country-Herz hängt. Das ist eine künstlerische Entscheidung, die (genüsslich) zu respektieren ist. Das Einzige, was man dieser Produktion insgesamt dennoch etwas ankreiden könnte, wäre, dass es eine vergangene Country-Periode so überzeugend zurückzubringen vermag, dass es gar nahe bei der Referenz liegt. Aber das ist bei diesem gelungenen Album Stänkern über hohes Niveau.

Breiter ist der Ansatz von Whitney Rose, den sie schalkhaft als „vintage-pop-infused-neotraditional-country“ umschreibt. Sie ist nach mittlerweile vier Alben seit 2012 – und einem neuen, das am Entstehen ist – lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass ihre Kunst im Mainstream (Nashville) wahrscheinlich nicht mehr genügend Traktion findet. Eingängigste Hooks, das A und O potenzieller Radiohits, sind ihre Sache und Ziele nicht. Sie vertraut mehr auf die Kraft ihrer Melodien, Geschichten und Liveauftritte. Dabei haut sie wie nebenher Lieder (und Alben) heraus, die jedes populäre Radioprogramm qualitativ auf eine spürbar höhere Stufe heben könnten. Live ist sie ein Erlebnis der ganz besonderen Art. Ihre Ansagen ans Publikum in Laufen gehörten wahrscheinlich zum Schrägsten, was auf diesem Gebiet hierzulande schon zu erleben gewesen war. Sie waren so (charmant) ungelenk und so voll verhauener Pointen, dass sie bereits wieder umwerfend waren.

Möglicherweise ist sie sich dieser Schwäche bewusst, aber mit Don’t Give Up On Me bittet sie so beschwingt und sich leicht um die eigene Achse drehend um Nachsicht – dass man gar nicht anders kann. Da fällt die Tatsache, dass auch sie verspricht, nicht aufzugeben, als Nebensächlichkeit unter den Tisch. Die Bühnenpräsenz der zierlichen Sängerin mit der leicht kindlichen, aber dennoch prägnant-kräftigen Stimme war sexy ohne Ende. Nicht dass sie, ausser vielleicht mit dem für sie typischen kurzen Kleidchen, dem keck etwas nach hinten geschobenen weissen Hut über ihrer dunklen Haarpracht und attraktiven Gesichtszügen sowie weissen Boots, in denen auffallend schlanke Beine steckten, nichts Augenfälliges dazu beigetragen hätte, aber es waren ihre Stimme, die Ausstrahlung, die unbewussten fliessenden Bewegungen – ihre ganze Art eben, die „Lolita“ im Vergleich dazu wie Kinderprogramm aussehen liess. Während der ersten vier Songs ihrer Show wähnte man sich gefühlt zwischen knisterndsten „Twin Peaks“-Ausschnitten, untermalt von einsamsten Chris-Isaak-Gitarrenklängen, die Noel McKay schuf, aber anfangs noch etwas die Synchronisation mit der Sängerin suchen mussten. Trotzdem war es surreal schön bis zum Abwinken mit Gänsehaut bis unter die Haarspitzen.

Ihre Musik ist ein überaus gelungener Brückenschlag zwischen Hillbilly-Wurzelgemüse – Home With You – und moderner Americana-Fusionsküche – Thanks For Trying. Da köchelt, schmort, brodelt, dampft oder zischt es unter Verwendung klassischer Zutaten, aber auch Gepfeffertem, und heraus kommt ein Country-Sound, wie er zeitgenössischer kaum sein könnte, aber sich seiner Herkunft nicht verschliesst oder deswegen auch nur im Geringsten schämen würde. Whitney Rose schafft es auf beeindruckende Weise, das Ganze unverkrampft anzugehen und den Blick unverschämt klarsichtig oder auch mal augenzwinkernd, wie im Titelsong ihres letzten Albums We Still Go To Rodeos, auf die Country-Zukunft gerichtet zu halten.

Gute Stimmen haben beide. Aber während die Schweizerin ein traditionsverhaftetes Country-Girl verkörpert und dies mit ihrem in hoher Nashville-Studioqualität produzierten Debüt schön homogen im 90er-Country-Sound rüberzubringen vermag, zieht die scheue Kanadierin ganz andere Register. Bei ihr bekommt man sogar umwerfendsten „Boudoir“-Country, einen Stil, den es so eigentlich nicht gibt, weil es kaum Country-Sängerinnen gibt, die das so wie sie hinbekämen. Höchstens vielleicht noch Lindi Ortega, eine andere Kanadierin. Der perfekte Soundtrack für die unzähligen Kurven von Chur nach Arosa hinauf? Just Circumstance wäre ein Tipp. Bester Country-Punk? Klar doch – In The Rut. Ein perfekter Shuffle, der so schön dreht, wie sie es auf der Bühne zwischendurch tut, zum Flanieren und Knutschen an einem warmen Sommerabend? Überhaupt kein Problem – We Still Go To Rodeos. Whitney Roses Musik ist hemmungslos anziehend.

Ihre Reize haben beide Künstlerinnen und Country-Spielarten und Auslegungen. Je nachdem, wie man eben gestrickt ist. Bei der einen ist es fast sicher, dass man sie in absehbarer Zeit hier wieder live erleben wird – worauf man sich freuen kann. Bei der anderen könnte es wieder eine Weile dauern – aber vielleicht hilft ja ihr „lost album“, die Wartezeit einigermassen erträglich zu überbrücken.

Redaktion
4/5

Dieser Artikel erschien in der Country Style-Ausgabe Nr. 142/2022.

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