Um Kris Kristofferson einzuordnen, kommt man um die grossen Attribute nicht herum, so eindrücklich sind der Lebenslauf und das Werk des grossen mittlerweile 80-jährigen US-Künstlers und mehrfachem Hall-of-Fame-Mitglied. Ende Juni tritt er im Kongresshaus Zürich auf. Eine (letzte) Gelegenheit?
Auch wenn er am Konzertdatum 28. Juni 2017 gerade eben seinen 81. Geburtstag gefeiert haben wird und ihn sein einst ausgezeichnetes Gedächtnis heute manchmal im Stich lässt, ist „Ja!“ wahrscheinlich die richtige Antwort.
„Es ist eine verdammt gute Sache, dass er Lieder schreiben kann.“
Dieses Zitat stammt von seinem guten alten Freund Willie Nelson. So jedenfalls lautete dessen scherzhafte Antwort auf die Frage von Interviewer Charlie Rose, was er von Kristoffersons gesanglichen Qualitäten hielte. Kristofferson ergänzte zum selben Thema, dass er, als er kurz nach Janis Joplins Tod am 4. Oktober 1970 ihre Version von Me And Bobby McGee gehört hatte (er hatte nicht gewusst, dass sie es für ihr neues Album „Pearl“ aufgenommen hatte), das Lied so hörte, „wie es gesungen werden sollte“. Ähnlich wie bei Bob Dylan liegen seine herausragenden Qualitäten nicht in der Stimme, sondern beim Schreiben von Liedern, was allerdings den Gesamteindruck ihrer Musik paradoxerweise noch verstärkt.
Das Attribut „Lichtgestalt“ scheint nicht zu hoch gegriffen oder pure mediale Übertreibung zu sein, meinte doch wiederum Willie Nelson, dass Kristoffersons Lieder Country damals aus „dem düsteren Mittelalter ins Heute transportierten“ und so die Musik/das Genre in weiteren Kreisen akzeptabel machten. Mit „düsterem Mittelalter“ bezog sich Nelson auf den „Nashville-Sound“, mit dem die Studios seit den 50er-Jahren der ursprünglichen Country-Musik nach und nach fast alle Kanten abgeschliffen hatten, um deren kommerzielle Verbreitung und Akzeptanz ausserhalb der US-Stammlande zu befeuern.
Als Kristofferson 1965 nach seiner Dienstzeit, zum Leidwesen seiner Familie, anstatt die sichere Lebensstelle als Dozent für Englische Literatur an der US-Militärakademie von West Point, New York anzutreten, lieber seinen Traum verwirklichen wollte, in Nashville Songwriter zu werden, machte er sich wohl keine allzu grossen Gedanken über dortige Studiopolitik und dergleichen. Seine Karriere hätte kaum weiter unten in der Nahrungskette der Music City USA anfangen können: Er wurde erst einmal Hausmeister bei Columbia Records, dem Label, bei dem auch sein leuchtendes Vorbild Johnny Cash unter Vertrag stand. Wenn er nicht Räumlichkeiten fegte, schrieb er und versuchte, seine Lieder den Stars irgendwie unterzujubeln. Weil das Einkommen aber hinten und vorn nicht reichte, um seine junge Familie mit einem kranken Kind durchzubringen, hängte er den Besenjob an den Nagel. Danach flog der ehemalige US-Army-Helikopterpilot im Range eines Hauptmanns unten am Golf von Mexico wochenweise abwechselnd Ölarbeiter auf die Plattformen vor der Küste und zurück oder schrieb in Nashville Lieder.
Die Legende besagt, dass unter den Songs, die er unbedingt Johnny Cash unterjubeln wollte, auch Sunday Morning Coming Down war. Um mit diesem „Pitch“ (Versuch) bei Cash grösstmögliche Aufmerksamkeit hervorzurufen, lieferte er das Liedmaterial per Helikopter, den er in Cashs weitläufigem Vorgarten landete, frei Haus. So etwas vergisst so schnell keiner. Tatsächlich nahm der grosse Star Notiz und nach einiger Zeit auch den Song auf.
Nimmt man eine weitere Aussage Nelsons, wonach Kristofferson Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre die Country-Musik nachhaltig beeinflusste, zum Nennwert und nicht als zu überschwängliches Urteil eines kompetenten Freundes, stellt sich sogar die Frage: War er womöglich der Archetyp des Nashville-„Outlaws“, den Waylon Jennings, Willie Nelson und ihre Kumpels bis zur Mitte der 70er zu einer bis heute legendären Figur des künstlerischen Widerstands innerhalb des Genres machten?
Nach Nashville hatte es schon manchen „Cowboy“ aus Texas gezogen, aber einen wie Kristofferson wohl noch nie zuvor. Intellektuell war er so beschlagen, dass er nach einem Abschluss in Literatur mit Höchstnote am südkalifornischen Pomona College mit einem Rhodes-Stipendium am Merton College in Oxford, England, noch ein Bachelordiplom in Philosophie machen konnte. Dazu war er eine gut aussehende Sportskanone in Leichtathletik, Rugby und Football, der sogar schon um den „Golden Glove“ Amateurboxtitel gekämpft hatte und das Haar länger trug als damals gemeinhin üblich in der gesellschaftspolitisch reaktionären bis heuchlerischen Musikhochburg jener Tage. Er hätte perfekt in die Rolle gepasst – hätte er sie denn angestrebt. Aber er suchte dort genau das Gegenteil – nämlich den Durchbruch und nicht den Ausbruch. Seine Lieder waren verhältnismässig revolutionär im Stil, aber kein Angriff auf das Establishment rund um die Music Row. Sie entsprangen einfach seinem hellwachen Geist und einem aussergewöhnlichen Talent und Gefühl für Sprache und Musik. Kein Vergleich also mit Jennings, Jessie Colter, Willie Nelson oder Tompall Glaser, die mit dem Nashville-Sound-Korsett bewusst brechen wollten, weil es ihrer Kreativität die Luft nahm. Dennoch meinte der ebenfalls als „Outlaw“ apostrophierte David Allan Coe, der wirklich ein „böser Junge“ mit umfangreichem Strafregister war, später einmal: „Kris war jedermanns Idol in Nashville.“
Besonders zutreffend erscheint der Leuchtturmvergleich. Kristofferson-Songs waren glänzend und warfen auch regelmässig ein besonders helles Licht auf die Talente derer, die sie interpretierten. Wenn Johnny Cash Sunday Morning Coming Down sang, wurden Mann und Material in brillanter Weise eins. Der CMA-„Song of the Year“ von 1970 bringt auch heute noch etwas von der einsamen Melancholie eines Sonntagmorgens jener Zeit zurück, selbst wenn man kein abgebrannter Musiker mit Hang zu Betäubungsmitteln war. Erinnerungen an eine Epoche, als nach dem obligaten Kirchgang noch regelmässig Bratenduft um die Hausecken wehte und man als Kind seine juckenden Sonntagshosen mit Freuden gegen die saubersten dreckigen Alltagsbeinkleider getauscht hätte. Ebenfalls 1970 verlieh ihm die Academy of Country Music den ACM-Award für den „Song of the Year“: For The Good Times – gesungen von Ray Price. Kristofferson gelang damit das einmalige Kunststück, von beiden massgeblichen Country-Musik-Organisationen im selben Jahr mit verschiedenen Liedern in der gleichen Kategorie ausgezeichnet zu werden.
Sammi Smith (1971) und Gladys Knight (1972) machten aus seinem sexuell aufgeladenen Help Me Make It Through The Night zwei ganz unterschiedliche Wünsche. Beiden Versionen gemein ist das vordergründige Verlangen nach körperlicher Befriedigung. Aber während es sich bei der weissen Sammi Smith eher nach purer Lust und deren einmaliger Befriedigung zwecks Verdrängung anhörte, klang es bei der schwarzen Gladys Knight eindringlicher – wie der nächste grosse Schritt hinein in eine romantische Beziehung. Für Sammi Smith wurde es eine Nummer eins, ein Millionenhit, CMA-„Single of the Year“ 1971 sowie ein Grammy für „Best Country Female Vocal Performance“. Für Gladys Knight ein Pop- und Soul-Hit.
Me And Bobby McGee, das Kristofferson mit Fred Foster, dem Besitzer von Monument Records, bei dem er mittlerweile als Sänger unter Vertrag stand, komponiert hatte, wurde durch Janis Joplin – selbst eine Ikone jener Zeit voller Umwälzungen – zu einem weltbekannten Kunstwerk der jüngeren Zeitgeschichte. Als das Lied 1969, zuerst von Roger Miller aufgenommen, herauskam und bis auf Platz zwölf der Country-Charts stieg, war ganz Amerika unterwegs. Die Regierung – „Uncle Sam“ – schickte junge Männer in einen unsinnigen und mörderischen Stellvertreterkrieg nach Vietnam, die NASA Neil Armstrong mit Apollo 11 auf den Mond, Studenten gingen protestierend auf die Strasse, Peter Fonda und Dennis Hopper fuhren auf ihren Harley-Choppern im Film „Easy Rider“ auf der Suche nach Amerika quer durchs Land ins Verderben, über 400.000 sogenannte „Hippies“ pilgerten nach Woodstock zur Mutter aller künftigen Musikfestivals, und Kristofferson liess Bobby McGee und Begleitung singend und Mundharmonika spielend als Tramper mit der längst legendären Ausrede „Freedom’s just another word for nothing left to loose – Freiheit ist bloss ein anderes Wort dafür, nichts zu verlieren zu haben“ – von Baton Rouge nach Salinas in einem Truck mitfahren.
Die 70er-Jahre waren ein „grossartiges Jahrzehnt“ für ihn, wie er selbst einmal ausdrückte. Nachdem ihn Johnny Cash auf dem Newport Folk Festival 1969 vorgestellt und ihm so zu grösserer Bekanntheit verholfen hatte, wurde der zweite Versuch mit dem nachträglich umbenannten Debütalbum „Me And Bobby McGee“ (1971) ein Erfolg. Als „Kristofferson“ hatte die Platte 1970 noch nicht eingeschlagen. Jetzt war er auch ein Plattenstar. Nach der kurzen Beziehung mit Janis Joplin traf er 1971 auf einem Flug von Los Angeles nach Nashville die Sängerin Rita Coolidge am Flughafen. Bei der Zwischenlandung in Memphis stiegen sie bereits gemeinsam aus und blieben ein Paar bis zur Scheidung 1980. Am Ende konnte Rita Coolidge einfach nicht mehr, und eine der knisterndsten Künstlerbeziehungen und -ehen der damaligen Zeit scheiterte endgültig an seinem Hang zu Alkohol, Drogen und Frauen. Unvergessen sind ihre gemeinsamen Auftritte, wenn sie Help Me Make It Through The Night im Duett sangen und dabei manchmal das Publikum völlig zu vergessen schienen.
Gänzlich zur Ikone wurde er, als er vom Musikfach auch zum Film wechselte. Sein markantes Gesicht und die lässige Männlichkeit, die er nicht nur auf der Bühne und Leinwand verkörperte, sondern auch durch und durch war, machten aus dem Multitalent einen Filmstar. 1976 erhielt er für seine Rolle als abstürzender Rockstar in „A Star Is Born“ an der Seite von Superstar Barbra Streisand den Golden-Globe-Award als bester Schauspieler dafür, dass er praktisch „sein eigenes damaliges Leben spielte“, wie er einmal erzählte. Der Soundtrack zum Film verkaufte sich weltweit 15 Millionen Mal. Sehenswert sind auch seine Filme unter der Regie von Actionspezialist Sam Peckinpah – darunter besonders der Kassenschlager „Convoy“. Aber auch Michael Ciminos überambitionierter Spätwestern „Heavens Gate“ von 1980, der zu einem der teuersten und grössten Kinoflops aller Zeiten wurde, was aber nicht an den Schauspielern oder der Handlung lag.
Ikonenhaft muteten auch die Köpfe der Highwaymen an. Fast so als wäre das Präsidentendenkmal am Mount Rushmore in einer Country-Version zum Leben erwacht. Kristofferson und Willie Nelson formierten sich mit Johnny Cash und Waylon Jennings zur temporären Superformation The Highwaymen, die Mitte der 80er-Jahre vier der einflussreichsten Stars des Genres auf Platte und Bühnen weltweit vereinte. Grösser ging es kaum.
Der Auftritt in Zürich ist, wie jede Begegnung mit Kris Kristofferson, ein kurzes Eintauchen in die Musikgeschichte – nicht nur in die der Country-Musik. Sein fortgeschrittenes Alter wird wahrscheinlich verhindern, dass der Eindruck am Ende des Abends perfekt sein wird, aber wie oft bietet sich einem noch die Gelegenheit, Musikgeschichte, und besonders seine Geschichten, noch einmal so direkt und unverstellt zu erleben?