
Marco Gottardi erlebt derzeit den perfekten Sturm. Als Musiker ist er durch die in diesen Pandemie-Zeiten unumgänglichen Social-Distancing-Massnahmen bis auf weiteres ohne Bühne und in seinem Haupterwerb als Schausteller ist das Geschäft buchstäblich zum Erliegen gekommen. Wie geht man mit einer solchen Horrorsituation um?
Man braucht sich nichts vorzumachen, die diesjährige Rummelplatz-Saison ist höchstwahrscheinlich bereits gelaufen. Somit wird die herrschende Lage, je nach Dauer, nichts weniger als existenzbedrohend. Dessen ist sich Marco Gottardi voll bewusst, auch wenn das mögliche Ausmass die Vorstellungskraft so weit strapaziert, dass bereits ein Stück weit die natürliche Verdrängung einsetzt, um hier und da ein Gefühl von leiser Panik zu unterdrücken. Wer wäre mental nicht herausgefordert, wenn er sein Geschäft bis auf weiteres einfach einmotten müsste?
Auf dem Weg zu Marco Gottardi ins Zürcher Oberland führt der Weg am Flugplatz Dübendorf vorbei. Wo früher Militärjets und Helikopter starteten und landeten, stehen jetzt zahlreich Passagierflugzeuge von Swiss und Edelweiss in Reih und Glied. Abgestellt bereits seit Wochen. Für wie lange noch? Das weiss niemand so recht. Während diese Maschinen normalerweise Geld in Form von Kerosin verbrennen, das Passagiere im Voraus bezahlt haben, verbrennen sie jetzt nur stumm Millionen an Kapital, ohne dass sich ihre Triebwerke auch nur einmal drehen dabei. Bildlicher als mit gegroundeten Flugzeugen mit Schweizer Kreuz hinten am Seitenleitwerk kann man hierzulande einen wirtschaftlichen Kollaps nicht darstellen. Und es passiert schon wieder.
Unweit davon, in der Nähe des Greifensees, befinden sich die zwei Lagerhallen, wo Marco Gottardi seinen Fuhr- und Fahrgeschäftspark eingestellt hat. Dessen Abstellkosten belaufen sich auf 18.000 Franken im Jahr. Normalerweise wären die Bahnen und Buden bereits seit Anfang April auf Chilbi- oder ähnlichen Plätzen im Einsatz. Wenn er es gut plant, und die Termine auch noch günstig liegen, praktisch pausenlos bis sich die Saison im November jeweils zu Ende neigt. In sieben Monaten – im Sommerferienmonat Juli läuft kaum etwas im Schaustellergeschäft – muss das ganze Jahreseinkommen erwirtschaftet werden. Wenn man sich vor Augen hält, wie kurz diese Saison eigentlich ist und auf der Einnahmenseite auch noch stark vom Wetter abhängt, könnte man schon mal kurz in Schweiss ausbrechen in diesen Tagen heruntergefahrener wirtschaftlicher Aktivität.
Wäre er nicht ein so geerdeter Mensch, dazu noch mit ordentlich Gottvertrauen und dem Langmut eines passionierten Hobby-Goldsuchers ausgestattet, man könnte geneigt sein, sich etwas Sorgen um ihn zu machen in der gegenwärtig doch recht prekären Lage. Aber ein ganzes Leben auf Rummelplätzen macht widerstandsfähig und ein gutes Stück weit auch krisenresistent, wenn man den Kopf behält, vorausschauend wirtschaftet und notfalls auf Reserven zurückgreifen kann.
Seine langjährigen Arbeiter, Saisonniers aus Portugal, die mit ihm jeweils neun Monate im Jahr die Fahrgeschäfte auf- und abbauen und am Laufen halten, hat er gar nicht erst kommen lassen. Die finanziellen Hilfsmittel, wie Überbrückungskreditmöglichkeiten und Kurzarbeitsentschädigung hat er in Anspruch genommen. Die Versicherungen, deren Prämien sich bei ihm auf rund 80.000 Franken belaufen und bezahlt sein müssen, bevor sich das Karussell ab April das erste Mal um seine eigene Achse gedreht hat oder es beim Autoscooter den ersten Zusammenprall gab, hat er sofort gekündigt. Auch wenn es drei Wochen dauerte, bis alles im Detail ausgehandelt war. Aushilfsjobs für 18 Leute in Spitzenzeiten fallen dieses Jahr einfach weg. Liquide bleiben, ist das Gebot der Stunde. Cash ist King in Zeiten, in denen wegen verordneter Geschäftsuntätigkeit auf nicht absehbare Zeit die Einnahmen ausbleiben. Dass er letztes Jahr das Geschäft in eine Aktiengesellschaft einbrachte, war rückblickend eher ein zufälliger, aber wie sich jetzt herausstellt, auch glücklicher Entscheid. Dem Verlustrisiko sind damit Grenzen gesetzt. Mehr aber auch nicht.
Die meisten kennen Marco Gottardi entweder als Schausteller oder als Country-Sänger, dessen Anfänge noch in die Zeit zurückreichen, als John Brack und Jeff Turner die Szenerie hierzulande beherrschten. Oft genug aber ist er beides. Geschickt gelingt es ihm diese beiden Seiten des Showgeschäfts profitabel zu verbinden. Synergien erzielen, nennt man das auf den Teppichetagen grosser Unternehmen. Oftmals suchen Veranstalter nicht nur musikalische Unterhaltung, sondern durchaus auch noch ein bisschen Rummel – oder umgekehrt. Dann wird Marco Gottardi zum One-Stop-Shop. Unterhaltungskonzepte – „dann mache ich einen Ordner“ – für jedes Festbudget sind ein Klacks für ihn. Ob Riesenrad, Country-Bands, Schiess- und andere Buden oder bärtige Frauen – er liefert und schaut, dass alles läuft. Jahrzehntelange Erfahrung und Beziehungen sind eben auch ein Kapital. Der erfahrene und geschickte Networker Gottardi behält, wenn immer möglich auch das Wohl der hiesigen Country-Szene im Auge. Dieser Tage hat er beim Aufräumen seines Büros gleich sackweise alte Unterlagen und Verträge aus den 1990er-Jahren geschreddert. Darunter nicht wenige, wo er hiesigen Mitstreitern zu Auftritten verholfen hatte. Gelernt hatte er das Impressario-Geschäft einst bei Fritz Portner, dem Manager von John Brack, der es zwar ablehnte, ihn zu managen, aber ihm ganz praktisch zeigte, wie man das macht. Davon, und seinen guten Verbindungen in die Szene und zu Veranstaltern, haben später nicht wenige auf dem Schweizer Country-Circuit profitieren können, wenn es darum ging Auftritte zu ergattern.
Unglücklicherweise trifft es ihn in seiner Nebentätigkeit als Country-Sänger genauso hart. Grossveranstaltungen mit mehr als 1.000 Besuchern bleiben vorerst bis Ende August verboten. Der Festival-Sommer 2020 wird als Non-Event in die Geschichte eingehen. Und ob kleinere Musikveranstaltungen einhergehend mit der erwarteten Wiedereröffnung von Theatern und Kinos ab 8. Juni 2020 wieder stattfinden dürfen, ist weiterhin unklar. Wie auch die Frage, ob strenge Schutzkonzeptauflagen solche Anlässe nicht von vornherein praktisch verunmöglichen bzw. unrentabel machen. Unklar bleibt vorderhand auch, wie sich die Menschen – das Publikum – in Zeiten erhöhten Infektionsrisikos letztlich verhalten werden. Obwohl am Tag des Besuchs bei ihm im Grünen der „Sonntagsblick“ meldete, dass Veranstalter unter Vorlage eines Massnahmenkonzepts beim Bundesrat darauf drängten, dass bereits Ende Mai wieder Anlässe mit weniger 1.000 Besuchern möglich sein sollen und es hiess, das der Europa-Park in Rust (D), der durchaus als Messlatte für grosse, wie auch kleine Veranstaltungen mit Publikumsandrang gelten könnte, am 29. Mai 2020 seine Tore wieder öffnen dürfe, überwiegen bei ihm weiterhin die Zweifel. Es scheint schwer vorstellbar, wie auf einem Rummelplatz strikte Pandemie-Hygienevorschriften und –konzepte wirkungsvoll umgesetzt werden könnten.
Auf die Frage, wie sich der Lockdown auf ihn und seine Band konkret auswirke, antwortete er: „Ich habe das Glück, dass ich mit Berufsmusikern zusammenarbeiten darf. Natürlich waren sie jetzt auch unter Druck, denn sie geben ja Schulunterricht und mussten ihren Unterricht komplett umstellen, was einige didaktische und technische Herausforderungen bedeutete. Mittlerweile sehnen sie sich aber enorm danach, wieder auftreten zu können. Weil wir schon so viele Jahre zusammen Musik machen, was uns richtig zusammengeschweisst hat, vermissen wir in dieser Zeit einander und die Bühne. Um die Downtime zu überbrücken, haben wir uns entschieden, dass wir, wenn der Lockdown vorüber ist, mit fünf neuen Songs im Programm aufwarten können.“ Auf die Frage, wie sie das ohne miteinander üben zu können einspielen wollen, meinte er nur lachend: „Wir üben das jeder für sich und dann beim Soundcheck für den ersten Nach-Corona-Gig spielen wir die Lieder erstmals ein und schauen.“ Das sind die Vorteile einer eingespielten Formation mit viel Erfahrung. Bassist Germano Cantore ist beispielsweise schon seit 1994 dabei. Auch ist Marco Gottardi während dieser Zwangspause, in der er oft Zeit im Garten verbrachte, den seine Frau Rahel seit dem Einzug ins Haus mit viel Liebe und Leidenschaft in einen herrlich blühenden „Cottage“-Garten verwandelt hat, der Gedanke gekommen, vielleicht ein Set oder Medley mit Songs von unlängst verstorbenen Musikstars einzuspielen. Dabei standen Namen wie Kenny Rogers, Jerry Reed oder Joe Diffie aus der Country-Ecke oben auf der Liste, aber auch Prince. Und weil es im Garten immer etwas zu tun gibt, und man dabei schön sinnieren kann, fallen ihm möglicherweise sogar noch weitere ein bei Gelegenheit.
Überhaupt, um Ideen ist er nie verlegen. Eine seiner bemerkenswertesten hatte er erst vor ein paar Monaten. Bei seinem traditionellen Weihnachtskonzert am 14. Dezember 2019 in Uster/ZH, liess er die Christbäume mit der Spitze nach unten aufhängen. Seiner Frau missfiel dieser Einfall derart, dass sie ihn geradeheraus fragte, ob er spinne. Der Haussegen geriet mitten im letzten Advent zeitweilig etwas in Schieflage bei den Gottardis. Aber er bestand darauf und erklärte: „Ich bin mit dieser Welt nicht mehr einverstanden. Es herrschen Neid und Missgunst und kein Zusammenhalt mehr und damit habe ich Mühe. Ich finde das eine verkehrte Welt und darum hänge ich meine Weihnachtsbäume verkehrt auf, um den Leuten zu sagen, ich finde die Welt verkehrt, wie sie im Moment ist.“ Sein persönliches Gefühl war nicht unbegründet, denn kurz darauf Anfang Februar 2020 warnte UN-Generalsekretär Antonio Guterres vor „einem Wind des Wahnsinns“, der um die Welt wehe. Dem folgte dann noch ein Virus aus Wuhan auf dem Fuss und stellte nicht nur glitzernde Papptannenbäume, sondern gleich die Welt so richtig auf den Kopf diesen Frühling. Diese kleine Geschichte aus der letzten Vorweihnachtszeit, soll nicht dazu dienen, dass Freunde von Verschwörungstheorien auf allen Social-Media-Kanälen einen neuen Guru feiern, sondern vielmehr verdeutlichen, wer Marco Gottardi eigentlich ist: ein authentischer, feinfühliger Mensch mit dem Herz am rechten Fleck, einer Angetrauten, die ihre Meinung sagt und gut gärtnern kann sowie einer verdammt guten Band im Rücken, wenn er auf die Bühne steht und Country-Musik macht. Das alles macht die gegenwärtige Krise nicht leichter, aber erträglicher.
„Ich finde das eine verkehrte Welt, und darum hänge ich meine Weihnachtsbäume verkehrt auf, um den Leuten zu sagen, ich finde die Welt verkehrt, wie sie im Moment ist.“
(Marco Gottardi, Dezember 2019)
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