Wann ist man ein guter Reiter?

wenn es mal flotter wird, kommt der gute Reiter nicht aus dem – seelischen oder körperlichen – Gleichgewicht. (Bild: Angelika Schmelzer)
Auch wenn es mal flotter wird, kommt der gute Reiter nicht aus dem – seelischen oder körperlichen – Gleichgewicht. (Bild: Angelika Schmelzer)
Kennen Sie den kürzesten Reiterwitz? „Ich kann reiten!“ Einem wirklichen Reiter käme eine solche Behauptung nie über die Lippen. Unter Pferdefreunden gelten eine gewisse Demut und das Wissen, dass Reiten zu lernen ein nie endender Prozess ist, als erstrebenswerte Einstellung und essenziell für ein erfolgreiches Miteinander von Pferd und Mensch. Ansonsten ist man sich nicht so recht einig darüber, was einen guten Reiter, eine gute Reiterin ausmacht, woran man gutes Reiten erkennen kann und ob es womöglich Merkmale gibt, die gute Reiter über alle Pferderassen und Reitweisen hinweg verbinden.

Reiten: Kunst, Handwerk, Sport, Spass?

Reiten: Ein Mensch sitzt auf einem Pferd und bewegt sich gemeinsam mit ihm vorwärts, wobei der Mensch das Pferd auf unterschiedliche Weise beeinflusst und darüber bestimmt, in welche Richtung es sich bewegt, welche Gangart es einschlägt, wie es seinen Körper benutzt. Mehr ist es eigentlich nicht, und doch reicht diese banale Grundlage für eine solche Vielfalt an individuellen Interpretationen des Reitens aus!

Für die meisten Pferdefreunde ist Reiten mehr als nur ein Sport – es ist eine Bereicherung, ein Lebensstil. Manche haben Reiten zu ihrem Beruf gemacht. Für einige passionierte Pferdefreunde ist Reiten gar eine Kunst – Reitkunst. Die Freude, der Spass am Reiten steht für viele Pferdefreunde im Vordergrund. Auch wenn dies oft so dargestellt wird: Objektive Unterschiede zwischen Reiten im Rahmen von Wettkämpfen und Reiten ohne Wettbewerbsgedanken gibt es nicht, weder hinsichtlich der Qualität (!) noch bezüglich Pferderasse, Reitstil oder bevorzugter reiterlicher Disziplin. Ob auf dem Turnierplatz oder abseits davon, ob im Rahmen der Berufsausübung oder als reines Hobby betrieben, ob auf einem Pony oder mit einem Warm-, Kalt- oder Vollblut: Hier wie dort finden wir gute und schlechte Reiter, gutes wie schlechtes Reiten. Wobei es nicht ganz einfach ist, gutes und schlechtes Reiten zu definieren. Welche Massstäbe legt man da am besten an? Dahinter steht die Frage: Worauf kommt es denn beim Reiten eigentlich an? Was ist wichtig?

Mindestanforderungen

Beim gemeinsamen Tun von Pferd und Reiter spielt immer der Tierschutzgedanke mit. Reiten – wie auch alle anderen Elemente des Umgangs mit dem Pferd – muss also so erfolgen, dass unsere Pferde dadurch keinen Schaden nehmen, keine Schmerzen erdulden, nicht leiden müssen, weder körperlich noch seelisch. Klingt einfach, ist es aber nicht: Beim Reiten muss darauf geachtet werden, nur passende und dem Ausbildungsstand angemessene Ausrüstung zu verwenden, damit nicht etwa ein schlecht sitzender Sattel oder ein das Pferd (oder den Reiter) überforderndes Gebiss zu Schmerzen oder Verletzungen führt. Zudem muss das Training so gestaltet werden, dass Überlastungen ebenso wie Unterforderungen ausgeschlossen sind – beides kann zu physischen wie psychischen Beeinträchtigungen führen. Der Reiter muss ein Mindestmass an körperlicher Fitness mitbringen, um nicht zur wortwörtlichen Belastung für das Pferd zu werden. Und schliesslich agiert ein Reiter ruhig, gelassen und souverän, auch in Stresssituationen, bei Gefahren oder Misserfolgen – kein „Ausrasten“, keine körperliche Züchtigung des Pferdes, kein wütendes Massregeln. Ist all dies gewährleistet – und das sind schon eine Menge Anforderungen –, ist dies lediglich die Mindestanforderung. Vom guten Reiten sind wir noch weit entfernt …

Gutes Reiten braucht Zeit

Das erste Ziel lautet also: Im Sattel zumindest keinen Schaden anrichten – wer das hinbekommt, hat damit schon eine wichtige Basis auf dem Weg zum guten Reiter gelegt. Das Pferd soll durch seinen Einsatz als Reitpferd keinen Nachteil erleiden, so die Mindestanforderung. Toll, wenn es sogar Vorteile hat: wenn ihm die Arbeit mit dem Menschen Spass macht, wenn es als Reitpferd glücklicher wird, vielleicht sogar gesünder, leistungsfähiger, kräftiger und geschmeidiger! Als Reiter und Pferdemensch muss man eine entsprechend genaue Vorstellung davon haben, was ein Pferd im Allgemeinen und das eigene Pferd im Besonderen braucht, um ein gesundes und erfülltes Leben zu haben, aber auch, was ihnen nicht guttut oder was sie besonders auszeichnet. Es braucht dazu Kenntnisse der Anatomie, der Physiologie, der Fütterungskunde, Wissen aus der Verhaltensforschung ebenso wie aus der Trainingslehre und vieles mehr. Manche Bedürfnisse unserer Pferde sind angeboren, arttypisch und damit unveränderlich – werden sie nicht erfüllt, hat dieses Pferd kein gutes Leben. Dazu gehören an erster Stelle die Bedürfnisse nach Sozialkontakten, freier Bewegung, frischer Luft und viel Licht. Wissen über diese elementaren Anforderungen lässt sich in Kursen, aus Büchern und durch eigene Erfahrungen erwerben. Andere Bedürfnisse sind individueller Natur und können nur dann vom Reiter korrekt eingeschätzt werden, wenn der sein Pferd zu „lesen“ versteht: wenn er oder sie also am Verhalten und aus Reaktionen des Pferdes erkennen kann, was es mag und was nicht, was ihm Angst macht oder was seine Neugierde weckt, woran es Spass hat und was es langweilt, wann es angemessen gefordert und wodurch eher überfordert wird.

Parallel dazu entwickelt ein Reiter auch eigene Fähigkeiten im Sattel. Dazu braucht es Zeit – Reitzeit – ebenso wie möglichst viele Erfahrungen mit unterschiedlichen Pferden. Geschmeidiges Sitzen in jeder Gangart und auch dann, wenn es mal etwas flotter oder gar ungeregelt zugeht, feine und präzise Hilfengebung in jeder Situation, flexibles Eingehen auf ganz unterschiedliche Anforderungen, Hineinspüren in das Pferd, um dessen aktuelle Befindlichkeit zu jeder Zeit korrekt einzuschätzen, dazu einen vernünftigen Trainingsplan immer im Hinterkopf – all dies braucht es auf dem Weg zum guten Reiter und völlig unabhängig von der gewählten Reitweise und dem Leistungsniveau.

Harmonie ist das Ziel

Am Ende entsteht dann genau die Harmonie, die Zuschauer – auch völlige Pferdelaien – so fasziniert und die das Markenzeichen guten Reitens ist: Reiter und Pferd agieren in völliger Übereinstimmung, mit Leichtigkeit und Lockerheit. Es entsteht der Eindruck von Mühelosigkeit selbst bei grösster Anstrengung. Ohne ausufernde Bewegungen sitzt der Reiter stets im Schwerpunkt und kann seine Hilfen so fein geben, dass sie kaum wahrgenommen werden können. Mal geht es rasant, dann wieder ganz ruhig zu – die Kriterien für gutes Reiten ändern sich nicht. Die vom Publikum oft so geliebten actionreichen Vorstellungen haben mit gutem Reiten oft kaum etwas zu tun, manche gern übersehene, weniger auffallende Vorstellung dagegen ist Reitkunst vom Allerfeinsten, auch wenn sie ohne Zuschauer in der heimatlichen Reitbahn gezeigt wird. Gutes Reiten stellt das Pferd in den Mittelpunkt, nicht den Erfolg, nicht den Sieg gegen die Konkurrenz, nicht das Ego des Reiters. Und wirklich toll am guten Reiten ist: Nicht nur das Pferd, auch der Reiter profitiert davon. Das Gefühl des Eins-Seins mit dem Pferd ist wirklich unbezahlbar!