In Zeiten, wo aus Krisen statt erhoffter neuer Normalität neue Fragilität entsteht, werden alte Gewissheiten besonders wertvoll. Insbesondere Menschen oder Dinge, auf die man sich verlassen kann, selbst wenn es schwierig wird oder sogar noch schlimmer. Das muss gar nicht immer im ganz grossen Rahmen sein, oft sind kleine Stützen im Alltag sogar viel entscheidender. Im hiesigen Honkytonk-Alltag sind Andy Martin und seine Bands seit 35 Jahren solche Stützen.
Die Mitte der 1980er-Jahre entstandene und von Randy Travis 1986 zusammen mit anderen Stürmen des Lebens verkündete Theorie, wonach es immer irgendwo ein Honkytonk geben wird, wo eine Musikbox in der Ecke steht, jemand Tränen in sein Bier vergiesst, wo Gebeutelte einfach nur noch abhängen und eine einsam aussehende Frau ihren Liebeskummer zu kurieren sucht, ist 2022 zwar ziemlich in die Tage gekommen, was das Bild angeht, aber im Kern stimmt sie immer noch.
Menschen brauchen Begegnungen und Begegnungsorte. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob an solchen Orten die Musik aus dem Orchestergraben vor einer grossen Opernbühne kommt oder nur auf kleiner Bühne irgendwo draussen im Land erklingt. Hauptsache, es kann vor Publikum gespielt werden. Das haben die zurückliegenden zwei Jahre bewiesen, als genau das über längere Zeit eben nicht mehr möglich war.
Die Pandemiezeit, die genau zwei Jahre, bevor diese Zeilen entstanden, am 16. März 2020 mit einem bis dahin schier unvorstellbaren Lockdown des ganzen Landes für alle unmissverständlich ihren ersten Höhepunkt markierte, wirbelte auch die Honkytonks und ihre Hauptdarsteller ganz gehörig durcheinander.
Andy Martin und seine Band hätten am 15. März 2020 eigentlich zum „American Breakfast“, dem grossen Brunch im Rahmen des Internationalen Country Music Festivals im Zürcher Albisgütli, aufspielen sollen. Zum Auftritt im traditionsreichen Saal am Fuss des Zürcher Hausbergs, der sich bis dahin seit über 30 Jahren alljährlich für mehr als einen Monat in das grösste und schönste Honkytonk der Schweiz verwandelt hatte, kam es aber nicht mehr. Am Sonntag, den 8. März 2020, nach dem vorläufig letzten Sonntagsfrühstück im amerikanischen Stil mussten die Pforten des Albisgütli wegen des Corona-Ausbruchs plötzlich und vorzeitig aufgrund der Seuchengefahr im ganzen Land verriegelt werden. Im abgewandelten in England gern zitierten Opernjargon: „Es war aus, bevor die dicke Dame ihren letzten Ton gesungen hatte.“ Eigentlich undenkbar. Die letzten drei Akkorde und hoffentlich etwas Wahrheit kamen in jener Spielzeit von Alex Klein und seiner Las Vegas Country Band, dann gingen im Saal des ehemaligen Schützenhauses die Lichter aus, und sie sind für hiesige Freunde der Country-Musik bis heute nicht wieder angegangen. Wer damals die letzten Streifen Speck vom Buffet ergatterte, ist nicht überliefert.
Wie gross diese Zäsur für Andy Martin war, wird klar, wenn er sich rückblickend daran erinnert, dass 2020 das bis dahin bestgebuchte Jahr in seiner damals 33-jährigen Geschichte als Bandleader gewesen wäre. Über 50 Auftritte waren bereits fix eingetragen in seinem Tourneekalender. Dass nach dem Auftritt vom 13. März in der Linde, Weiningen/ZH, bis auf Weiteres abrupt Schluss sein würde mit Auftritten, wurde nur zwei Tage später schockierende Gewissheit. Das vermeintlich beste Jahr jemals hatte sich auf einen Schlag in Luft aufgelöst.
Ein ganzes Land musste über Nacht eine Auszeit nehmen, um sich mehr Klarheit über die Lage zu verschaffen, wie es weitergehen könnte, und dabei bestenfalls gesund zu bleiben. In der Mai-Ausgabe Nummer 115 dieser Publikation stand damals im Bericht zum abgebrochenen Albisgütli-Festival: „Wie sich das Bild doch mittlerweile gewandelt hat. Freude und tiefe Zuversicht sind Unbehagen und beträchtlichen Nöten gewichen. In unserer von viel Vertrauen geprägten Umgebung macht sich seit Kurzem vermehrt Misstrauen bemerkbar. Es wird grosse Anstrengungen und auch Glück brauchen, um diese bleiern gewordene Zeit im Land und auf der Welt zu überwinden.“
„Was machen wir jetzt?“, fragten sich auch Andy Martin und seine Musiker in völlig ungewisser Lage. Ein Gedanke war: „Den Bettel hinschmeissen nach 33 Jahren!“ Schliesslich war er mit 63 Jahren kein Jungspund mehr und hatte seine „dues“, wie Pflichterfüllung in der Country-Szene gern überzeichnet wird, längst im Übermass beglichen. Schulden tat Andy Martin im historischen Frühling 2020 nichts und niemandem mehr etwas. Andererseits war da doch dieser prallvolle Tourkalender gewesen, der zeigte, dass die Nachfrage nach ihm und seiner Musik weiterhin gross war. Auch das letzte Album „Honky Tonks Are Calling Me Again“, das im September 2018 herauskam, war mit seinen zehn Songs immer noch aktuell und war gekauft worden nach den Auftritten. Und da gab es auch noch diese Zuversicht, ohne die die Menschheit wahrscheinlich längst ausgestorben wäre. In einer kleinen (nicht repräsentativen) Umfrage dieses Magazins unter 26 hiesigen Country-Musikern, zu denen auch Andy Martin zählte, bei der damals „Nur schnell mal der Puls gefühlt“ werden sollte, kam Folgendes heraus:
Auf die Frage „Wann, glaubst Du/glaubt Ihr, wird es wieder möglich sein, öffentliche Veranstaltungen (Konzert-/Linedance-Events) abzuhalten?“, lautete das Ergebnis zusammengefasst: „Das Gros denkt, dass öffentliche Veranstaltungen ab Juni/Juli wieder möglich werden könnten. Ganz wenige glauben sogar ab Mai, und die zweite grössere Gruppe legte sich auf den Herbst 2020 fest. Zwei planen bereits mit dem Kalenderblatt 2021.“
Nicht einmal zehn Prozent der Befragten wollten also während des ersten Lockdowns im April das Tourneejahr 2020 schon abschreiben.
Dass Andy und seine Mannen am Ende durchhalten wollten, hat wie fast immer nicht nur einen Grund. Etwas Licht ins Dunkel mögen Gedanken und Aussagen von ihm über seinen ureigenen inneren Antrieb, Musik zu machen, bringen, die er im Gespräch mit Country Style im März 2017 äusserte. Damals hatte er bereits 30-Jahre aktive Musikkarriere auf dem Buckel und begründete: „Ich mache es immer noch gern“, oder: „Meine Band will spielen.“ Aber auch, und nicht ganz unwesentlich: „Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn wir zu wenig Auftritte haben“, und: „Ich bin dafür verantwortlich, für möglichst reibungslose Abläufe zu sorgen.“ Weitere mag auch eine frühe Lektion im Musikgeschäft eine Rolle gespielt haben: Die prägende Erfahrung, dass sich Pläne dort ganz schnell ändern können, hatte er bereits in jungen Jahren machen müssen, als sich jene Band, bei der er als jugendlicher Bassist mittat, auflöste, bevor er auch nur einen einzigen Auftritt hatte bestreiten können.
Was Country-Künstler national und international alles unternahmen, um aus der verordneten Abgeschiedenheit heraus mit ihren Fans und anderen wichtigen Leuten in Kontakt zu bleiben, einfach nicht in Vergessenheit zu geraten oder gar Hunger leiden zu müssen, darüber haben wir seit Frühjahr 2020 regelmässig berichtet. Andy Martin stellte drei Zielgruppen in den Vordergrund: Den Fans von ihm und Honkytonk-Klängen half er, die Zeit mit neuen Singles von sich zu überbrücken. Aus der Bühnenkontaktnot heraus wurde er 2020 und 2021 buchstäblich zum „Single Man“, wie er in diesem Magazin gelegentlich augenzwinkernd genannt wurde. Als sich letzten Frühling beim Buchungsstand abzeichnete, dass es 2021 im Vergleich zum bedrückenden Jahr 2020 wieder etwas mehr Anlass zu Hoffnung gab, startete er gar eine wahre Singleoffensive. Einerseits, um sich allgemein in Erinnerung zu rufen, aber wohl nicht zuletzt auch unter dem Eindruck, dass es mit den Auftrittsmöglichkeiten wieder aufwärtsgehen würde ab Sommer 2021. Da wollte man ganz klar eine Option sein, wenn Country-Musik nachgefragt werden würde. Im Mai 2021 veröffentlichte er die Single Hope. Danach erschienen im Monatsrhythmus Texas When I Die (Juni) The Road To Hell (Juli), I Love You (August) und zuletzt in diesem Januar das Duett Goodbye Moon mit der österreichischen Country-Sängerin Marina Jay. Davor war bereits Anfang 2021 Embers Of Love herausgekommen. Mit der zweiten Zielgruppe, den Veranstaltern, mit denen er auf eine lange, gute Zusammenarbeit zurückblicken konnte, hielt er regelmässig – direkt, aber auch durch Newsletter, die er periodisch digital versandte – Kontakt und versuchte, wenn immer sich, auch kurzfristige, Auftrittsgelegenheiten boten, für diese in Betracht zu kommen und sie auch flexibel wahrnehmen zu können. Wer in der Pandemie geistig, personell, organisatorisch und logistisch flexibel blieb, hatte Trümpfe, die in der Regel stachen. So kamen letztes Jahr doch 15 Gigs zusammen zwischen Juli und November.
Keine einfachen Zeiten machten die unabhängigen Country-Radiostationen in der Welt durch, die seit vielen Jahren wichtige Promotionskanäle für Andy Martins Musik waren. Wegen Corona blieben Studios zwischenzeitlich geschlossen, der Betrieb musste reduziert werden, und nicht wenige, beispielsweise in Australien mit seinen harten Corona-Massnahmen, mussten gar für immer dichtmachen, weil beständige Werbeeinnahmen nicht mehr zu erzielen waren und ihnen dadurch die Luft ausging.
Offenbar gaben die zuvor angeführten Gründe, zusammen mit der gegenwärtigen Überzeugung, dass die Corona-Pandemie, soweit absehbar, beherrschbar geworden ist, den Ausschlag, weiterzumachen. Aus den Singles, die im Zeitraum 2020 bis 2021 produziert und veröffentlicht wurden, ist sein neues elf Lieder umfassendes Album „Pure Country“ – sein 16. – entstanden, das vor zwei Monaten herauskam. Es fasst Andy Martins Schaffen unter erschwerten Rahmenbedingungen zusammen und ist damit einer der akustischen Zeitzeugen schweizerischer Honkytonk-Musik in ausserordentlicher oder besonderer Lage.
Natürlich kann man die ganze Geschichte und dieses Album auch weit weniger dramatisch betrachten und einfach als vergnügliche Unterhaltung in der vielleicht schönsten Stilrichtung der Country-Musik hören. Am 23. April 2022 steigt im Dukes in Sihlbrugg eine Jubiläumsfeier mit CD-Taufe sowie den Gästen Florian Fox und Roger Leuenberger. Eine von hoffentlich noch vielen schönen künftigen Gelegenheiten, einen Abend in waschechter Honkytonk-Atmosphäre zu geniessen. Und vielleicht auch nachzuholen, was man, als es plötzlich nicht mehr möglich war, gern noch einmal hätte erleben wollen. Randy Travis hat dazu keine weitere Theorie, dafür die Erkenntnis 1982 aus Sicht des Jahres 1986. Eine Erkenntnis, die man natürlich auch schon vor der Corona-Pandemie dann und wann hätte gewinnen können, aber vielleicht nicht mit der heutigen noch einmal verstärkten Intensität und Unmittelbarkeit. Besonders, wenn bedauerliche, traurige Verluste zu beklagen waren.
Andy Martin und Marcel Britt (Bass), Norbert Dengler (Pedal-Steel-Guitar), Domenico Russo Antunez (Schlagzeug) und Nino Russo (Leadgitarre) sind jedenfalls bereit für pure Country-Musik für leichte und allenfalls auch etwas schwerere Herzen im Jahr 2022 und hoffentlich darüber hinaus.