Bei Washington ist das „State“ obligatorisch, um Verwechslungen mit der Hauptstadt zu vermeiden, die gemeinhin unter „D.C.“ firmiert. Dabei wurde Washington nach jemandem benannt, der nachweislich nie einen Fuss auf den Boden des Staates gesetzt hat. Vielleicht hat man sich deshalb mit dem Beinamen „The Evergreen State“ geschmückt. Wobei die Washingtonians nicht nur Evergreens hören. Zu finden auf der Karte der Vereinigten Staaten oben links, auch wenn das keine offizielle geografische Beschreibung ist. Das trifft im Übrigen auch im übertragenen Sinne zu: Seit Microsoft, Starbucks und Amazon ist der Staat oben (um nur drei Zeitgeistphänomene zu erwähnen), und links ist er auch, wie die Wahlergebnisse zeigen, wobei die Republikaner im Osten (Spokane) ebenfalls über ein ordentliches Pfund verfügen. Die meisten Bewohner allerdings leben im Westen, wo in den Supermärkten bis zu drei Regalmeter Kompucha-Getränke zu finden sind. Sämtliche Country-Songs kommen auch in einer (wahlweise) glutenfreien und veganen Version daher. Der Bewegungsdrang der „Immergrünler“ ist unvorstellbar: Sie bewegen sich nicht einfach so fort, sie wandern, klettern, rudern, kajaken, segeln, skateboarden, radeln oder laufen vor Grizzlys davon. Mit Ausnahme vom Mount St. Helens haben wir es obendrein mit einem fanatischen Nichtraucherstaat zu tun.
Okay, für seine Country-Musik ist Washington nicht gerade berühmt, da ist man etwas „green“ hinter den Ohren, obwohl sich mit Brandi Carlile gerade ein neuer Stern am Himmel positioniert hat. Namen wie Danny O’Keefe (geboren in Spokane), Michael Peterson (in Richland aufgewachsen) und dieser Mandolinist, der bei Lyle Lovett spielt – es ist nicht so, dass ich seinen Namen vergessen habe, aber behalten habe ich ihn auch nicht. In Lovetts Band hat eine Zeit lang auch Mark O’Connor (Seattle) gefiedelt. Der gigantische Grand-Coulee-Staudamm wurde in mehreren Liedern von Woody Guthrie besungen, eine Auftragsarbeit, für die er etwa 250 Dollar bekam. Trotzdem steht der pazifische Nordwesten eher für Musiker wie Jimi Hendrix oder Kurt Cobain. Der Sound dieser Region hat sich weltweit als „Puget-Sound“ durchgesetzt.
Besser als „Evergreen-State“ würde freilich „Espresso-State“ passen – vielleicht war es der legendäre Dauerregen, der aus den Seattlelites bedingungslose Kaffeetrinker gemacht hat – und hier geht es nicht um den regulären „Drip Coffee“. Die religiösen Aspekte des Konsums verdienen Aufmerksamkeit: Gourmetkaffeetrinker lassen sich getrost als Gemeinde bezeichnen, und nicht selten ist zu beobachten, dass deren Mitglieder schon nach einem gemeinen „Café Latte“ derart zu glühen beginnen, dass man argwöhnen könnte, sie seien erleuchtet. Ihre Gebetsformeln sind für Aussenstehende kaum zu entschlüsseln: „Single short two percent …“, murmeln die Jünger versonnen und „double tall half & half …“. Wahrscheinlich muss man in Seattle geboren sein, um zu wissen, was ein „Cappuco on the dry side“ ist – ein Cappuccino mit mehr Schaum als Flüssigkeit. Mittlerweile auch in abartigen Kreationen erhältlich, zum Beispiel mit Lavendel. Hier sollte der Gesetzgeber einschreiten.
Viele Unternehmen haben ihr Business in einer Garage aufgebaut, Bill Gates soll der Legende nach so angefangen haben, ebenso Jeff Bezos von Amazon, dabei wären Garagen durchaus vonnöten, wo es doch so feucht ist. Bestimmt wurde auch die erste Boeing in einem alten Holzschober zusammengeleimt. Das mit dem Regen ist natürlich eine Mär, welche die anderen Amerikaner davon abhalten soll, sich auch noch in dieser Gegend anzusiedeln. Die anderen indes kommen trotzdem, was die Mieten in Seattle in den letzten drei Jahren um 50 Prozent hat steigen lassen, in Stadtteilen wie Queen Anne sogar um die Hälfte. Und sowieso gilt: „Wenn du das Wetter nicht magst, warte drei Minuten!“ Wenn man während eines Schauers einen Schirm sieht, weiss man: Den trägt kein Einheimischer.
Der Westen hat sich dem Wasser zugewandt, nicht nur dem von oben, hier findet man Natur pur, mit Orcas, Seelöwen, Seemöwen, Weisskohladlern – you name it. Urban Farming, das heisst ganze Plantagen auf Flachdächern, sind in der „Emerald City“ ein Thema, nur bei der innerstädtischen Tierhaltung hält man sich zurück: daher der Begriff „Schaflos in Seattle“. Der gesamte Staat ist umzingelt von Bergketten, Restaurantketten und Passstrassen, für die Schneeketten im Winter unabdingbar sind. Der Osten ist landwirtschaftlich geprägt, die legendären „Washington Apples“ wachsen hier, der Name deutet es an, obwohl Apple sonst in Kalifornien zu Hause ist. Überall sieht man rostbraune Scheunen, und mit der Gemeinde Winthrop gibt es auch eine für amerikanische Verhältnisse „echte“ Westernstadt. Richtiges Cowboyflair mag sich einstellen Ende August bei der Washington State Fair in Puyallup, wo man den Wilden Westen in kondensierter Form erleben kann. Die Ernährungslage ist entsprechend, viel Fett und noch mehr Fleisch, aber vor dem Messegelände verteilen pink gewandete Cheerleader Tabletten gegen Sodbrennen. Na dann: cheers!
Songs über Washington State:
Damien Jurado: The Last Great Washington State
Harry Nilsson: Puget Sound
Freightliner: Nowhere Washington
Hudson Keffer: Rain Don’t Stop In Washington
Citizens‘ Utilities: Yakima
Kasey Anderson: Bellingham Blues
Liz Cooper & The Stampede: Spokane
Jim & Jennie & The Pinetops: Mount St. Helens
Robert Stanley: Don’t Come To Seattle
Shawn Mullins: September in Seattle
Dieser Artikel erschien in der Country Style-Ausgabe Nr. 109/2019.
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