Dunkles und Erhellendes

Toni Vescoli im Studio
Toni Vescoli in seinem Musikstudio.
Mit seiner neuen CD „gääle MOND“, die ab Mitte April erhältlich ist, legt Toni Vescoli ein Mundart-Spätwerk voll Licht und Schatten in 15 Akten vor. Dabei fängt er die Zeit und die Welt, in der wir dieser Tage leben, sowie seine eigene fortgeschrittene Lebenszeit lyrisch und musikalisch äusserst kunstvoll und hörenswert ein.

Seine bislang letzte Soloplatte „66“ kam 2008 heraus. 66 Jahre zählte er damals bereits – ein Alter, in dem sich die meisten bereits in die Pension oder Lebensabendresidenzen in wärmeren Gefilden verabschiedet haben. Der Singer/Songwriter aus dem Zürcher Oberland jedoch überlegte sich an jenem Punkt in seinem Leben, „ob es sich noch lohnen würde, einen neuen Tourbus anzuschaffen“. Heuer wird er 77 und ist, das beweist dieses Album, immer noch am Ball, und das neue Gefährt von damals hat mittlerweile auch schon fast wieder zehn Jahre auf dem Buckel. Womit sich dieselbe Frage von damals langsam erneut stellen könnte.

Ob er sich noch einmal einen neuen Bus kauft, bleibt vorderhand noch offen, aber dieses neue Album musste er einfach noch machen: „Nachdem ich bei Auftritten von Fans öfter einmal darauf angesprochen worden war, ob es das eine oder andere Lied aus meinem Repertoire, das ihnen besonders gefallen hatte, nur von mir eingespielt auch irgendwo auf einer Platte gäbe, fing der Gedanke an zu reifen, ein solches Soloprojekt einmal anzugehen. Als Arbeitstitel wählte ich ‚Elei dihei‘. Aber das war noch vor meinem 70. Geburtstag gewesen. Dann kamen aber zuerst noch das Buchprojekt (Anmerk. d. Red.: Autobiografie ‚MacheWasiWill‘, 2014), und die Sauterelles hatten auch neue Songs geschrieben und wollten daraus ein Album machen, wofür ich auch noch Songs beisteuern sollte. Somit verzögerten sich diese erst einmal angedachten Soloprojektpläne weiter und weiter. Zwischenzeitlich hatte ich backstage bei einem Leonard-Cohen-Konzert meine alten Musikerkollegen und guten Bekannten Roscoe Beck und Mitch Watkins aus Texas wiedergetroffen, die mich spontan fragten, wann wir ‚67‘, den Nachfolger von ‚66‘, machen würden, worauf ich zurücklachte und meinte, dass mittlerweile eher ‚77‘ angesagt wäre. Nach dieser Begegnung befand ich mich dann etwas im Dilemma: Sollte ich ‚Elei dihei‘ weiter verfolgen oder ‚77‘ in Angriff nehmen? Die Antwort war dann ein Kompromiss, der darauf hinauslief, dass eine Hälfte des neuen Albums im Verbund in Austin, Texas eingespielt werden sollte und die andere bei mir in meinem Arbeitsraum – eben ‚Elei dihei‘. Mit Felix Müller, der schon über 25 Jahre bei mir in der Band spielt und ein eigenes Studio hat, machte ich mich dann an die Arbeiten zu einer Produktion, die auf zwei Kontinenten unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen – mit Band und allein – entstehen sollte.“

Auch wenn noch nicht im Handel erhältlich, liegt diese jüngste Soloproduktion, bestehend aus 15 Songs, nun vor (siehe CD-Besprechung in Country Style-Ausgabe 101). Toni Vescoli zeigt sich dabei nach wie vor auf der Höhe der Zeit und seiner Schaffenskraft. Als stilistisches Rückgrat wählte er auf der melodischen Seite den Blues; bei den Texten dominieren zeitgenössische, gesellschaftskritische Betrachtungen eines nach wie vor alerten und vitalen Künstlers. Die Liedsprache ist zürichdeutsche Mundart, in der er sich längst wohler fühlt als im Englischen, dem Kommunikationsmedium, das ihn und die Les Sauterelles einst gross machte.

Das Album beginnt mit einem harten („Wutbürger“-)Blues, worin er die recht verbreitete Auffassung skizziert und karikiert, dass ältere Männer in der heutigen, gar schnelllebigen Zeit ihrem Unbehagen und ihrer Frustration über das Überholt- und Überrolltwerden nicht selten mit offenem Verdruss oder Verdrängen begegnen. Die Mundharmonika speit zu Beginn des Songs und am Ende der Refrains, die Saiten der akustischen Gitarre werden hart angeschlagen. So klingen Kapitulation und Abgelöschtheit, die ihn Ende 2013 zum Texten inspirierten. Zeilen, die daraufhin aber zwischenzeitlich als Songfragmente in den Weiten seines Computerspeichers verschwanden, bis er eher zufällig einmal „elei dihei“ wieder darauf stiess.

Ob es der texanische oder der kanarische Einfluss von Teneriffa, wohin er sich aus dem kalten Schweizer Winter jeweils zurückzieht, war, der zur schönen Melodie von Esmeralda führte? Denkbar wäre es. Gleich nach dem Wutbürger versinkt eine alte Dame zu akkordeonschwangeren Texmex-Klängen eines schönen Musikanten tanzend in der Musik und ihren Tagträumen. Musikalisch eine flotte Tanznummer mit Radiopotenzial – gefühlsmässig aber immer noch Blues.

Längerlebigkeit und Gesundheit – dass die Sechziger die neuen Vierziger sind – sind bei ihm natürlich auch ein Thema. Am deutlichsten wird das im Lied Top-Fit, worin er mit teils selbstironischer Distanz darauf zielt, dass die heutige Generation Senioren sich jünger fühlt und aufführt als jede vor ihr: „Die neue Alte sind chum me z’halte, härt wie Granit und topfit (mit Ausrufezeichen).“ Weil der forsche Takt des Liedes nicht nur eine gute Vorgabe für das Senioren-Kardiotraining im Fitnessclub wäre, sondern auch nach für Vescoli typischem Schlager klingt, wird es als erste Single erscheinen und wahrscheinlich auch seinen Weg in altersgerechte Radio- und eventuell vielleicht sogar Ausflugsprogramme finden.

Zählen Gesundheit und Fitness zu den Sonnenseiten des Lebens, und zwar nicht nur in dessen späterem Verlauf, ist Toni Vescoli, mit dem es das Leben überwiegend gut meinte, wofür er grosse Dankbarkeit empfindet, immer auch ein kritischer und differenzierter Beobachter der Welt um ihn herum geblieben. Kein Wunder also, dass ihm auch die Schattenseiten nicht verborgen blieben. Sie haben ihn offenbar nicht unberührt gelassen. Jedenfalls will er jenen hellen gelben Vollmond, der vorn auf der CD hoch über dem Sumpf steht und diesen auf dem Albumcover erleuchtet, als spärliches Licht verstanden wissen, das unter Umständen etwas Helligkeit selbst in ein Leben voll Dunkelheit und wenig standfestem Untergrund zaubern kann. Der Titelsong Gääle Mond ist mehr Gedicht als Lied. Aber eingebettet in eine schaurig-schön langsame Blues-Melodie, gespielt mit Slide-Gitarren-Technik, wird diese Metapher für das Leben auf der Schattenseite zu einer Art Mittsommernachtstraum mit angemessenem, leicht gruseligem Unterton – und aus Toni wird Puck.

Gutes Songwriting zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es dem Zuhörer viel Interpretationsfreiheit lässt. Es soll berühren – aber jeden Zuhörer durchaus irgendwo oder irgendwie anders. Mit dem Lied Näbed Mir ist ihm in dieser Beziehung ein kleines Meisterwerk gelungen. Der Träumer darin wacht mitten in der Nacht auf, weil er den geliebten Menschen an seiner Seite wieder zu spüren glaubt, obwohl das gar nicht mehr möglich ist: „Es isch verbi, du bisch nüme da, für immer zu isch d’Tür“, wird ihm dabei dann bewusst. Ob es sich bei diesem Verlust um Tod, Verlassenheit oder Alzheimer handelt – alles wäre denkbar. Auch dass der Träumer selbst langsam den Verstand verliert oder dem Tod entgegendämmert. Eine leise akustische Gitarrenmelodie begleitet diese angstvollen, traurigen Gedanken. James Taylor hätte dieses Lied nicht besser hingekriegt und Don McLean wahrscheinlich auch nicht. Dieses weite Feld der Auslegung ist kein Zufall: „Ich mache das bewusst, weil ich es immer interessant gefunden habe, wenn Leute aus dem Publikum zu mir gekommen sind, um mir ihre ganz persönlichen Empfindungen zu einem meiner Lieder zu präsentieren. Oft genug Gedanken, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Was Näbed Mir angeht, bin ich sogar noch nicht einmal sicher, ob ich mich live daran heranwagen werde, weil die Emotionen, die dieser Song auszulösen vermag, mich auf der Bühne übermannen könnten, und das wäre mir peinlich“, erklärte Toni Vescoli im Gespräch. Es wäre sehr schade, käme ausgerechnet dieses Lied nie zum Vortrag. Ruthli, seine Frau, findet es „immer so traurig“, seinem Produzenten Felix Müller, ein Rockbassist, der schon mit Gianna Nannini rockte, habe es dafür „wahnsinnig gut gefallen“, ergänzte er weiter. Unter diesen Vorzeichen scheint es geradezu perfekt zu sein für jenes Radioprogramm auf SRF1 am Freitagnachmittag, wo sich zumeist ältere Menschen mittels Musikwünschen Zuversicht und Anteilnahme in schwereren Zeiten übermitteln. Manchmal so rührend, dass einen beim Mithören selbst eine Welle Mitgefühl überkommt … und oft mit dem Klassiker Sierra Madre, woraufhin man dann selbst etwas Mitgefühl brauchen könnte.

Brillant in jeder Beziehung ist auch Weiss Nöd. Melodisch kommt dieses Lied einem Country-Song am nächsten und verschleiert damit vordergründig seinen brisanten Inhalt. Für diesen Song versuchte er sich in die Gedankenwelt eines Selbstmordattentäters hineinzuversetzen. „Dieses Lied hat eine lange Geschichte, ausgelöst durch den IS-Terror. Lange fehlte mir eine passende Melodie dazu. Letztlich kam ich auf die finale Version, die jetzt Eingang ins Album gefunden hat. Ich spielte sie mit einer Baritongitarre mit Bassaufgängen drin, um den fehlenden Bass zu ersetzen, und mit einer akustischen Gitarre zur Refrainbegleitung sowie einer orientalischen Darbuka-Trommel ein.“ Wie er, angestachelt von der kriegerischen Ausbreitung des IS vor ein paar Jahren, dieses heikle Thema in perfekte Reime packt, ist grossartig. Insbesondere die sechste Strophe, wo er sich in die Seele des Attentäters nach vollbrachter Tat hineinversetzt, die das versprochene Paradies sucht, es aber – so Vescolis Annahme – nicht antreffen wird. Genauso wenig wie „dä heilig Ma“ darin.

Wem das als Themenkatalog noch nicht reicht, der findet auch noch eine rockige Geschichte über Motorradrockerehre und -befindlichkeiten, eine Bahnfahrt an den Hinterhöfen eines zersiedelten Landes vorbei, Vorbehalte gegen die scheinbar grenzenlose Digitalisierung oder das Geständnis zwischen all dem Blues, dass der Rock ’n’ Roll und der dazugehörige Lifestyle seine erste grosse musikalische Liebe waren (und im Herzen geblieben sind).

„Gääle Mond“ ist eine Liedersammlung, die eigentlich eine eigene Show, wenn nicht gar Tour verdiente. Einige der Lieder haben bereits Eingang in Toni Vescolis diverse Shows gefunden, anderen steht das in absehbarer Zeit wohl noch bevor. Eine gute Gelegenheit, einen der verbliebenen hiesigen musikalischen Mehrgenerationenbegleiter mit neuem Album im Gepäck demnächst live erleben zu können, ist am Frühlingsanfang, 21. März 2019, im Rahmen des Internationalen Country Music Festivals im Zürcher Albisgütli. Dort aber eher im Licht eines genretypischen ­Neonmondes.

„Natürlich bin ich auch ein Entertainer. Ich bin glücklich, wenn ich dem Publikum Freude bereiten kann und dabei auch noch selbst Freude empfinde. Das ist ein Privileg.“

(Toni Vescoli im Country Style-Interview, Februar 2019)