Wir lieben unsere Pferde, fühlen uns ihnen nahe, teilen unseren Alltag, unsere Freizeit mit ihnen. Wir sorgen für sie, kennen ihre Bedürfnisse, gestalten achtsam ihre Lebensumstände. Trotzdem schleicht sich selbst bei erfahrenen Pferdemenschen oft ein fundamentaler Fehler in der Herangehensweise ein, der eigene, zutiefst menschliche Eigenschaften auf das Pferd überträgt. „Anthropomorphismus“ heisst diese Zuschreibung menschlicher Merkmale auf das Tier, und es kann uns beim echten Verständnis des faszinierenden Lebewesens Pferd ganz schön in die Quere kommen.
Falsch, aber verständlich
Kein Pferdemensch ist jemals ein Pferd gewesen, mit dem Menschsein aber haben wir alle viel Erfahrung. So finden wir im Laufe unseres Lebens viel heraus darüber, was uns Menschen eint, welche Merkmale wir selbst mit allen anderen Menschen teilen und wo Eigenschaften Ausdruck einer individuellen Persönlichkeit sind.
Aus diesem Bezugsrahmen heraus begegnen wir dann auch den Tieren, die unseren Weg kreuzen, und beginnen, Wissen über deren typische Merkmale zu sammeln. Doch können wir nicht aus unserer Haut heraus und blenden oft aus, wo sich Unterschiede zeigen. Einem echten Verständnis steht dies natürlich im Weg, doch diese Art von Schubladendenken ist ein bewährtes und nützliches Muster, um uns den Alltag zu erleichtern. Wir können nicht bei jeder Begegnung, in jeder Situation bei null anfangen, sondern müssen notgedrungen auf bereits gesammelte Erkenntnisse zurückgreifen. Dabei passiert so mancher Fehler –Anthropomorphismus ist eine Folge.
Pferdefreunde müssen notgedrungen lernen, zu unterscheiden: Was eint Mensch und Pferd und was trennt sie? Was passiert, wenn dies versäumt wird, wenn wir beim Betrachten unseres Pferdes die „Menschenbrille“ nicht ablegen, es nicht so wahrnehmen, wie es durch sein Pferdsein eben ist? Es gibt zwei ganz wichtige Aspekte des Anthropomorphismus.
Pferdetypische Bedürfnisse erfüllen
Einen unverfälschten Blick fürs Pferd braucht der Pferdefreund, wenn es um die Bedürfnisse seines Pferdes geht. Pferde sind Fluchttiere, soziale Lebewesen, sie brauchen Licht und Frischluft. Werden sie in einem Innenraum, bei wenig Licht und kaum frischer Luft einzeln gehalten und so, dass sie ihre Umwelt nicht auf mögliche Gefahren hin immer im Blick haben, werden all diese typischen Merkmale nicht berücksichtigt. Warum Menschen ihre Pferde trotzdem in solchen Boxen aufstallen? Weil wir diesen Lebensraum, ganz anders als unsere Pferde, als ideal erachten: Ist doch nett hier, richtig gemütlich mit dem schummrigen Licht, mit viel gut riechendem Stroh, warm und vor Regen geschützt, keiner kann von draussen reinsehen, Fenster und Türen sind zu, und wir fühlen uns sicher – toll! Hier sind die Bedürfnisse von Mensch und Pferd so fundamental verschieden, dass es uns schwerfällt, dessen Perspektive einzunehmen.
Innerhalb ihrer Herde, eingebunden in das Netz von Sozialpartnern, nehmen Pferde ihren Platz ein. Zwischen allen Mitgliedern des Verbunds gibt es sehr individuelle, differenzierte Beziehungen – der Rang spielt da überraschenderweise eine eher untergeordnete Rolle. Die Hierarchie ist zwar immer präsent und zeigt sich bei zahlreichen sozialen Interaktionen – daraus lässt sich aber nicht schliessen, dass jedes Pferd bestrebt ist, den eigenen Rang zu verbessern. Betrachten wir ein eher rangniedriges Herdenmitglied, könnten wir es bedauern – doch dazu besteht kein Anlass! Denn: Dem Pferd geht es gut. Es hat seinen Platz, wird beschützt und ist in die Herde eingebunden. Dazu trägt es null Verantwortung und ist im Rang so weit von der „Führungsebene“ entfernt, dass Auseinandersetzungen eher nicht zu befürchten sind. Im Vergleich zur „Chefetage“ führt es ein entspanntes Leben … In Pferdekreisen stehen für „die da oben“ nämlich nicht typisch menschliche Privilegien (Status, Geld, Macht, Ansehen) im Vordergrund, sondern Gefahren und Verantwortung: Schutz der Herde, Versorgung mit Ressourcen. So toll ist es für Pferde also nicht, an der Spitze zu stehen. Menschenbrille absetzen, hinsehen, erkennen – ein niedriger Rang hat für Pferde nicht einmal im Ansatz dieselbe (negative) Bedeutung wie für die meisten Menschen, im Gegenteil.
Ungerechte Unterstellungen
Richtig fies wird es, wenn wir Pferden böse Absichten unterstellen. „Der lahmt doch nur, weil es aufs Turnier geht – dem fehlt nichts, er ist nur faul!“ „Das hat der mit Absicht gemacht, um mich blosszustellen!“ Oder: „Der hat keine Angst, der will mich nur provozieren!“ Ziemlich häufig wird Pferden unterstellt, sie täuschten etwas vor, um daraus einen Vorteil zu erlangen. Ganz ehrlich: Dafür sind sie einfach nicht schlau genug. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass unsere Pferde zu einer so überaus komplexen Geistesleistung überhaupt nicht in der Lage sind. „Morgen geht es aufs Turnier. Wenn ich jetzt so tue, als wäre ich krank, dann entgehe ich dem ganzen Stress, der Anstrengung, vielleicht der Bestrafung, wenn ich nicht so gut abschneide, wie das erwartet wird. Am besten tue ich so, als hätte ich mir das Bein links hinten verletzt – dann holt mein Mensch den Tierarzt, ich bleibe daheim und kann es mir gutgehen lassen!“ – keine Chance, dass unsere Pferde einen solchen Gedankengang entwickeln und durchziehen! Dazu müssen sie zwei parallele Vorstellungen von der Zukunft gleichzeitig im Kopf visualisieren, gegeneinander abwägen, sich für die bessere entscheiden und dauerhaft etwas vortäuschen. Das tun sie nicht, sie leben ganz im Hier und Jetzt und reagieren auf das, was gerade passiert, auf der Grundlage gemachter Erfahrungen, nicht aufgrund von Vorstellungen über eine fiktive Zukunft.
Trotzdem hat es manchmal den Anschein, als wüssten unsere Pferde doch mehr: etwa dann, wenn ein krankes Pferd behandelt wird und sich nun plötzlich entspannt und sich ersichtlich besser fühlt, obwohl die Medikamente noch nicht helfen können. „Der weiss, dass ihm jetzt geholfen wird!“, heisst es dann – aber ist das so? Vergegenwärtigt man sich die Situation, wird schnell klar, was hier wirklich passiert: Der Tierarzt hat die korrekte Diagnose gestellt und beginnt mit der Behandlung, der Pferdefreund ist nach all der Anspannung und Angst nun froh, dass Besserung in Sicht ist – beide werden sich in diesem Moment entspannen, und genau dies empfängt das Pferd mit seinen feinen „Antennen“, und die Ruhe seines Umfelds überträgt sich. So erklären sich auch „plötzliche Lahmheiten vor dem Turnier“, „der Siegeswille des Pferdes“ oder „sein Gefallen an der schicken neuen Decke, weshalb er jetzt so stolz guckt“ – alles auf die eine oder andere Art eine Mixtur aus Spiegelung menschlicher Emotionen und Befindlichkeiten, selektiver Wahrnehmung aufseiten der Zweibeiner und ein bisserl Geheimniskrämerei.
Anthropomorphismus tut nicht gut
Manchmal ist eine Vermenschlichung harmloser Natur und regt eher zum Schmunzeln an, grundsätzlich aber zeichnet den Pferdefreund die Anerkennung des Pferdseins aus: mit allem Wissen um Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschieden zwischen Zwei- und Vierbeiner. Wird Trennendes nicht berücksichtigt und werden Pferden typisch menschliche Vorlieben, Absichten und Verhaltensweisen zugeschrieben, ist dies zum Nachteil für alle und ganz schlecht für die Beziehung. Und das wollen wir doch nicht …