Bad Hair Day – ich werd noch depressiv!

Schon in seiner Grundausbildung entwickelt dieser junge Hengst eine positive Haltung zum Training. (Bild: Angelika Schmelzer)
Schon in seiner Grundausbildung entwickelt dieser junge Hengst eine positive Haltung zum Training. (Bild: Angelika Schmelzer)
Was zunächst abwegig und weit hergeholt klingt, ist tatsächlich Gegenstand aktueller Forschungen und inzwischen erwiesen: Pferde können in einen Zustand geraten, den man beim Menschen als Depression bezeichnen würde. 

Während unter uns Zweibeinern die Depression grassiert und vielen Menschen Lebensmut und Perspektive raubt, schienen unsere Haus- und Nutztiere lange Zeit von dieser und anderen psychischen Erkrankungen unberührt zu bleiben – zumindest hatte man sich bislang kaum Gedanken darüber gemacht.

Es hat sich aber gezeigt, dass Pferde, ebenso wie etwa Hunde, durchaus unter Zuständen leiden können, bei denen eine enge, wenn nicht sogar ursächliche Verbindung zur klinischen Depression besteht. Wissenschaftler fordern deshalb, die Lebensumstände vieler Pferde kritisch zu hinterfragen und zu optimieren, da diesen bei der Entstehung eine wesentliche Rolle zukommt. Ungute Lebensbedingungen sind nämlich (mit) daran schuld, dass nicht wenige Pferde einen „erlernte Hilflosigkeit“ genannten Zustand entwickeln, der nach heutigem Kenntnisstand viel mit der Depression zu tun hat. Wie kommen Wissenschaftler darauf?

Auslöser „erlernte Hilflosigkeit“

Gehen wir ein ganzes Stück in der Zeit zurück und betrachten ein Tierexperiment der Verhaltenskunde, das, was man damals nicht wusste, ganz am Anfang der Erforschung des Zusammenhangs von Depression und erlernter Hilflosigkeit stand. Vor über 50 Jahren beobachtete eine Versuchsanordnung das Verhalten von Hunden in Bezug auf unangenehme Reize unter verschiedenen Rahmenbedingungen. Dabei machte man eine verblüffende Entdeckung: Hunde, die zuvor erlebt hatten, dass sie einem unangenehmen Reiz nie entkommen können, was auch immer sie versuchen, verinnerlichen offensichtlich diese Erfahrung und verallgemeinern sie. Sie werden dann unter veränderten Umständen, die ein Verlassen einer unangenehmen Situation, eine Vermeidung des negativen Reizes eigentlich erlauben, passiv bleiben und nichts unternehmen, um sich zu retten. Sie hatten gelernt, dass sie hilflos sind.

Man nannte dieses Phänomen folgerichtig „erlernte Hilflosigkeit“, hat es inzwischen eingehend erforscht, Parallelen und Schnittmengen mit der Depression aufgedeckt und auch untersucht, ob es bei unseren Pferden nachzuweisen ist. Viel spricht dafür, dass dies so ist. Wie aber kommt es dazu? Das hängt damit zusammen, dass Pferde – wie die Hunde in der beschriebenen Versuchsanordnung – ebenfalls häufig Lebensbedingungen ertragen müssen, denen sie zwar entkommen WOLLEN, aber nicht entkommen KÖNNEN. Warum das zu einem für das Pferd negativen Lernprozess führt, erklärt ein Blick auf den Lernvorgang selbst. Es ist für alle Pferdefreunde nämlich wichtig, sich zu vergegenwärtigen,

dass Pferde immer und überall lernen (wir natürlich auch),

dass neben konkreten Verknüpfungen von Hilfe und Reaktion des Pferdes bei Erziehung und Training auch viele weitere Lernformen eine Rolle spielen,

dass unsere Pferde nicht nur vorteilhafte, sondern ebenso auch ungünstige Handlungen, Haltungen oder Muster erlernen und

dass in Summe ganz umfassende, prägende positive wie negative Haltungen oder Einstellungen entstehen – darunter eben auch der Zustand erlernter Hilflosigkeit.

Pferde lernen also auch beispielsweise, mit dem Training, mit der Arbeit unter dem Sattel, aber auch mit ihren allgemeinen Lebensumständen negative Erfahrungen zu verknüpfen, sie als stressbehaftet zu empfinden, sich selbst aber als diesen Bedingungen schlicht ausgeliefert wahrzunehmen, und sie lernen, darauf auf ganz unterschiedliche Art zu reagieren – durch Verweigerung, durch offene Widersetzlichkeit, oft aber auch durch Resignation und Aufgeben: mit erlernter Hilflosigkeit. Dies ist ein Verhalten, mit dem ein Pferd lang anhaltenden Stress beantwortet. Erlernte Hilflosigkeit entsteht, wenn die Lebensumstände die Anpassungs- und Kompensationsfähigkeit eines Pferdes anhaltend überfordern. So weit, so traurig.

Es gibt Hinweise darauf, dass der Zustand der erlernten Hilflosigkeit mit Änderungen sowohl auf der Ebene des Zentralnervensystems als auch auf der Verhaltensebene einhergeht. Für den Pferdefreund wichtig: Ein betroffenes Pferd wird nicht nur signifikante Einbussen in seiner Lern- und Leistungsfähigkeit aufweisen, selbstverständlich ist auch sein Wohlbefinden dauerhaft erheblich beeinträchtigt. Wissenschaftler sehen drei Ebenen, auf denen erlernte Hilfslosigkeit ihre Spuren hinterlässt:

die Ebene der Emotion (des Fühlens),

der Kognition (des Wissens) und

der Motivation (des Wollens).

Betroffene Pferde werden nicht mehr versuchen, ihre Situation zu verbessern, auch wenn sie es könnten, sie sind unfähig, eine Verbindung zwischen ihrer Handlung und deren – möglicherweise positiven – Folgen in der Zukunft herzustellen. Und diesen Zustand kann man – auch – als Depression bezeichnen, die Schnittmengen jedenfalls sind gross.

Selbstwirksamkeit der Pferde stärken

Wir wie auch unsere Pferde müssen immer wieder die Erfahrung machen: Aktuell sind wir in einer als unangenehm, bedrohlich, schmerzhaft erlebten Situation und kommen da auch aus eigenem Tun nicht heraus. Wir empfinden Stress, unsere Selbstwirksamkeit wird eingeschränkt. Gute Bewältigungsstrategien helfen dabei, unbeschadet solche belastenden Umstände zu ertragen und vielleicht sogar gestärkt daraus hervorzugehen. Diese Resilienz lässt sich aktiv verbessern, bei uns selbst wie auch bei unseren Pferden. Die Antwort heisst also: Stress vermeiden, Selbstwirksamkeit stärken. Klingt arg verkopft, ist es aber nicht – es ist im Grunde der gesunde „Pferdemenschenverstand“, der hier gefragt ist. Und der begleitet echte Pferdefreunde bei der Gestaltung der Lebensumstände ihrer Pferde grundsätzlich.

Es hilft unseren Pferden natürlich in erster Linie, wenn wir die typische Kombination von Stress und Zwang vermeiden, die sie in die erlernte Hilfslosigkeit befördert. In diesem Zusammenhang plädieren Forscher dafür, bei der Ausbildung komplett auf Strafen zu verzichten und Pferde nur über Belohnungen zu motivieren, durch positive Verstärkung. Sie sollten grundsätzlich die Lernerfahrung sammeln, dass sie selbst über ihr Schicksal (mit-)bestimmen können. Dazu werden zudem ihre Lebensumstände so gestaltet, dass ihnen viele Wahlmöglichkeiten bleiben, die eine Art Ausgleich für Facetten von Haltung und Training schaffen, wo eine solche Wahl nicht gewährleistet werden kann. Wer sich seine Freunde und Spielkameraden aussuchen, zwischen drinnen und draussen wählen, das leckerste Futter auf einer Weide erschnüffeln, sich auf Spänen, Sand oder im Gestrüpp wälzen darf, wird es leichter verkraften, wenn vielleicht einmal unangenehme Situationen einfach nur ertragen werden müssen. Zudem bietet eine solche artgerechte Haltung mehr Anlässe für aktive und passive Erholung, was direkt dem Wohlbefinden des Pferdes dient und indirekt sogar dem Training nützt. Artgerechte Haltung und pferdegerechtes Training sind also der beste Schutz vor erlernter Hilflosigkeit. Wer sein Pferd vor erlernter Hilflosigkeit schützt, macht es übrigens auch schlauer, denn die kognitiven Fähigkeiten ganz allgemein scheinen bei erlernt hilflosen Lebewesen beeinträchtigt zu sein.

Pferdefreunde wissen längst, wie wichtig gute Lebens- und Arbeitsbedingungen für ihre Pferde sind: So gehaltene und trainierte Pferde sind nicht nur glücklicher, sondern auch gesünder und leistungsfähiger. Die Wissenschaft hat inzwischen gezeigt, dass wir auch der psychischen Gesundheit unserer Pferde mit guten Lebensumständen viel Stabilität verleihen. Und dann erleben, wie unsere Pferde auch bei anspruchsvollen Aufgaben begeistert mitmachen, aufblühen, stolz und froh in partnerschaftlicher Verbundenheit für uns da sind, anstatt uns einfach nur zu ertragen …