Martin Schaffner – Rising Tide

Martin Schaffner – Rising Tide

Heimatwerk

Singer/Songwriter sind keine höheren musikalischen Wesen – verglichen mit reinen Interpreten. Der lebende Beweis dafür ist „King“ George Strait. Dennoch, ihre Arbeiten sind oft ein Tick interessanter, weil sie mitunter ungefilterte Einblicke in ihre Gedankenwelt zulassen. Eine Zusammenfassung über jüngeres und jüngstes Schaffen aus heimischen Federn mit etwas Peepshow-Charakter.

„Rising Tide“

Martin Schaffners Album „Rising Tide“ ist wahrscheinlich eines der besten (Schweizer) Alben 2022. Basta.

„Chemical Reaction“

Die Damenkarte aus einem Quartett  unlängst Produktiver ist die Amerikanerin Beth Wimmer. Sie ist seit Langem hier ansässig und jetzt im Kanton Fribourg wohnhaft. Ihr neustes Album, mit dessen zehn Liedern (und weiteren) sie gegenwärtig durchs Land tourt, heisst „Chemical Reaction“. Sie mag nicht der Traum von Musikfreunden sein, die noch in die letzten Winkel ausgeleuchtetes Monothematisches am meisten schätzen – ihr inhaltlicher Ansatz geht querbeet durch den Gemüsegarten des Lebens. Man hat dabei das Gefühl, dass sie aus fast allem, was um sie herum passiert, ein Lied machen könnte. Und es dann auch noch schön singen könnte. Daraus entsteht in der Summe eine lebendige Mischung. Frau, Mann und die unvermeidlichen Beziehungsverstrickungen sind natürlich auch Thema. Manchmal läuft es, wie im sexy Shuffle Sugar Daddy, dann nicht mehr so, wie in Cold Rain, dessen vordergründig leichtfüssige Country-Melodie ein inhaltlicher und instrumentaler Blues interessant durchkreuzt. Über das Ableben und das Danach wird nachgedacht, und wieder überrascht die gewählte Melodie und verblüfft. Mehr zu verraten wäre doof. Es ist kein Männeralbum, aber wir Kerle kriegen dabei – in unserer zuweilen gloriosen Unzulänglichkeit – weder Absolution erteilt noch unnötig harsch unser Fett weg. Da hat jemand begriffen, dass sich das Leben halt mehrheitlich irgendwo zwischen und nicht an den Polen abspielt.

„In The Cloud“

„In The Cloud“ heisst das brandneue Album von Chris Regez und „Guitar“ Mike (Haller). Letzterer, sonst hauptamtlich ein Nashville Rebel, stellt dabei seine Riffs in den Dienst einer durchaus erfreulichen Country-Sache. Entstanden ist ein elfteiliger Beitrag zu guter Festzeltstimmung, wenn eingängige Klänge angesagt sind. Das Tempo ist folglich über weite Strecken ein flottes und grundsätzlich richtig gewählt, dominiert unter plastifizierten Planendächern doch eher das stimmungsvoll Oberflächliche über die Tiefen und Tiefs des Lebens. Jedenfalls, wenn es richtig läuft und bevor das eine oder andere trunken Elend in den frühen Morgenstunden doch noch auftaucht. Chris Regez ist nicht der introvertierte Typ, der grüblerisch in sich geht und das Resultat dann gesanglich ausbreitet. Er ist ein Unterhalter, der besser Songs schreiben kann, zu denen man klatschen, schunkeln und anstossen kann – jedenfalls auf diesem Album. Hierin liegt seine Qualität. Abstriche muss man dort machen, wo es ernster und gesanglich anspruchsvoll wird. Da hätte man ihm einen strengeren Produzenten gewünscht als das Studioteam in Nashville, das die in der Schweiz aufgenommenen Gesangsparts instrumental vervollständigte. Das Duett I Loved You Already hätte man Monika Schär allein überlassen müssen. Remember The Time wäre ein Schlager-Hit, wenn die Wortwahl an einigen Stellen perfekter und Text und Melodie noch etwas mehr in „perfect harmony“, wie besungen, verschmolzen wären.

„Long Road“

Der Kanton Bern ist vielleicht der einzige Ort im Land, wo Singer/Songwriter bei der Berufsangabe kein Naserümpfen auslöst auf einer Amtsstube. Die Heimat von Hanery Amman, Polo Hofer und vielen anderen ist auch die von Peter Blatter, wie der Troubadour „Knopf“ mit richtigem Namen heisst. An die übergrossen Fussstapfen der Interlakener Musikgrössen verschwendete er wahrscheinlich keinen Gedanken, zu sehr war er mit den eigenen beschäftigt, die sich über die Jahre in seinem Kopf festsetzten und letztlich im neuen Album „Long Road“ wie forensische Gipsabdrücke festgehalten werden mussten. Titel und Titellied sind gleichzeitig Programm, hat man beim Hören der zwölf Lieder jedenfalls den Eindruck. Er serviert eiskalt und beinhart Singer/Songwriter-Material, das er stilistisch so konsequent vorträgt, als käme er aus einem dieser rauen Chrachen in den Appalachen und nicht aus dem Touristen-Hotspot Berner Oberland. Aber lauern hinter den glitzerndsten Fassaden nicht selten die tiefsten Abgründe? Knopf, der sich lange aus der Musik zurückgezogen hatte, begründete sein musikalisches Wiedererscheinen kürzlich damit, dass er in seinem Kopf „Platz schaffen“ wollte. Wären doch bloss alle Räumungen so erbaulich wie diese.

Fazit:

Wo bunte Glühbirnengirlanden hängen, ist „In The Cloud“ von Chris Regez & Guitar Mike (Haller) vermutlich der passende Sound. Freizeitpiraten und nostalgische Küstenbewohner könnten sich von Martin Schaffners „Rising Tide“ etwas ge- und enttäuscht fühlen: Shanty-Lieder und Seebärenkitsch – Fehlanzeige. Allen anderen Musikfreunden sei es uneingeschränkt wärmstens empfohlen. Ein Album für alle Jahreszeiten und so einige romantische Lebenslagen ist Beth Wimmers „Chemical Reaction“. Als Matura-Vorbereitung im Fach Chemie weniger empfehlenswert, dafür umso mehr in Sozialkunde. Knopfs „Long Road“ ist nur ausgeschlafenen Fernfahrern ans Herz zu legen. Aber auf einsamer nächtlicher Autobahn so zwischen Kirchberg und Lenzburg ist er ein Begleiter, der etwas zu erzählen hat. Besondere Erwähnung verdienen alle Sängerinnen, die diesen Produktionen mit ihren Stimmen in manchen Fällen tragende Stützen und nicht lediglich Backgroundunterstützung waren.

 

Dieser Artikel erschien in der Country Style-Ausgabe Nr. 136/2022.

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