Tobey Lucas, der seinen Musiktraum durchaus zufrieden und recht erfolgreich Schritt um Schritt verfolgt, steht vor dem nächsten Karriereschritt, für den es allerdings einen Sprung bräuchte.
Acht Jahre und drei weitere Alben nach Erscheinen seines ersten Albums „83“, das den heute 38-jährigen Singer/Songwriter und Gitarristen aus Zürich auf die hiesige Country- und Americana-Landkarte setzte, ist der Zeitpunkt gekommen, die nächste Phase einzuläuten. Dafür spricht auch, dass er sich in den letzten Jahren kontinuierlich vom talentierten, hoffnungsvollen Country-Nachwuchsmann zu einer etablierten Grösse im hiesigen Singer/Songwriter-Feld mit Schwerpunkt Country- und Americana-Sound – „Ich liebe Country, aber schlussendlich ist es Ami-Sound …“ – entwickelt hat. Mit eingängigen Songs wie You’ll Be Waiting There, Our Last Ride oder vor allem Dear Peggy Sue gelang es ihm, seit 2013 eine durchaus beachtliche hiesige Radiopräsenz aufzubauen in den zielgruppenrelevanten Programmen. Die Grossverteiler-Weihnachtshymne A Million Years (2019), die er mit Anna Känzig sang und die während der Arbeiten zum Duettalbum „Two Of A Kind“ (2020) als eingeschobenes Nebenprodukt entstand, trug beiden viel nationale Aufmerksamkeit ein. Eigentlich ein klassischer Durchbruchsmoment, aber nur knapp drei Monate später wurden alle Schotten dichtgemacht, und das Land versank im Pandemie-Lockdown. Veranstaltungskalender und damit Tournee- und Auftrittspläne lösten sich in Luft auf. Statt ausgelassenen Beisammenseins waren plötzlich Distanz und weitere Schutzmassnahmen angesagt.
Die begrenzte Grösse der Schweizer Musiklandschaft bringt es mit sich, dass Künstler und Künstlerinnen, die darin auch Geld verdienen wollen, nicht allzu wählerisch sein dürfen und über eine hohe Anpassungsfähigkeit verfügen müssen, wenn es um profitable Auftrittsmöglichkeiten geht. Das führte auch bei Tobey Lucas dazu, dass man ihn bisher in verschiedensten Formationen und Konstellation erleben konnte: solo mit Akustikgitarre, mit Band, in Duoformation mit Anna Känzig oder als E-Gitarrist in ihrer Band. Der gezielten und konsequenten Schärfung des eigenen Profils ist eine derartige Vielgestaltigkeit jedoch nur bedingt zuträglich.
Hörte man in jüngerer Zeit etwas genauer hin, meinte man herauszuhören, dass er spürt, dass die Zeit reif geworden sei, wieder vermehrt mit seiner Band im Rücken als eigene Identität wahrgenommen zu werden denn als Hälfte der aussergewöhnlich gut zusammenpassenden und -wirkenden Duokombination mit Anna Känzig. Ein Indiz dafür wäre auch sein neustes Album, das am 8. Oktober 2021 erschienene „Booking Flights“, das ausdrücklich als „an acoustic album by the Tobey Lucas band“ vorgestellt wird auf seiner Website. Dass ausgerechnet jetzt die Omikron-Variante des Coronavirus die erhoffte erste gute Möglichkeit einer möglichen Neupositionierung und eines Neustarts in neuer Zeitrechnung nach der bereits knapp zweijährigen pandemiebedingten Auftrittszäsur vorerst wieder zunichtegemacht hat, ist natürlich enttäuschend. Der Auftritt vom 26. Februar 2022 beim inzwischen abgesagten Internationalen Country Music Festival im Zürcher Albisgütli wäre der perfekte Rahmen gewesen, seine seit 2020 entstandene Musik mit allem Drum und Dran einem breiten und kulturell durchaus etwas ausgehungerten Publikum live zu präsentieren.
Dabei hätte gewiss auch „Booking Flights“ im Vordergrund gestanden. Einerseits Mittel, um während der jüngeren auftrittslosen Perioden musikalisch aktiv zu bleiben und nicht in pandemiebedingte künstlerische Antriebslosigkeit abzugleiten, andererseits Standortbestimmung und Ausweis, wie weit man als Band mit diesen Songs, die man über die Jahre gefühlt bereits unzählige Male gespielt und gesungen hat, mittlerweile gekommen ist. Nicht zu vergessen aber auch, das vorzügliche mit Anna Känzig eingespielte Duettalbum „Two Of A Kind“ aus dem ersten Pandemieherbst 2020 neu zu beleben, das damals im medialen Getöse um die zweite Corona-Welle nicht annähernd die Aufmerksamkeit erfuhr, die es aufgrund seiner Qualität verdient gehabt hätte. Die Enttäuschung darüber wurde später zwar dadurch etwas gemildert, dass Songs wie das Titellied, Falling In Love oder I Want To Grow Old With You mittlerweile zu den jüngeren Standards und Ohrwürmern auch im grössten hiesigen Radiomusikprogramm zählen. Nichtsdestotrotz bleibt der Eindruck eines durch unbeeinflussbare äussere Einwirkungen etwas „verlorenen Albums“. Auch dem hätte man dieses Frühjahr im Albisgütli mit einem Paukenschlag entgegenwirken können, wäre doch Anna Känzig als Special Guest ebenfalls mit von der Partie gewesen. So aber bleibt der erste grössere Befreiungsschlag vorderhand noch aus, und auf seiner Website steht am Jahresanfang unter „Live“ weiterhin nur der trost- und anhangslose Vermerk: „Keine bevorstehenden Konzerte.“
In einer für alle leidenschaftlichen Musiker nicht einfachen Situation – künstlerisch, wirtschaftlich und mental – mag dem ausgebildeten Psychologen seine persönliche Grundhaltung helfen, wonach man im Leben nie ankommt und dass es um die Reise (und nicht das Ziel) geht. Und auch sein erster Broterwerb als Headhunter für IT-Spezialisten. Für ihn geht es immer weiter: „Das ist das grosse Thema meines Lebens und meiner Musik allgemein. Entscheidend ist die Reise, sind die Schritte, die man jeden Tag macht. Wichtig ist, dass es dir auf deinem Weg gut geht“, führte er im Radiointerview mit SRF1 im April 2018 aus. Damals war sein nächster Schritt, das zweite Album „Little Steps And A Dream“, herausgekommen und Gegenstand der Sendung.
Seine musikalische Reise durchs Leben begann im Alter von fünf Jahren, als das „Fernsehkind“, wie er sich selbst manchmal beschreibt, in einem TV-Programm die Geige entdeckte und daraufhin dieses Instrument erlernen wollte. Jugendorchester, Kammermusik, das Abschlusskonzert bei der Maturafeier – 15 Jahre lang spielte er Geige. „Sie steht immer noch zu Hause. Aber ich nehme sie nicht mehr so oft in die Hände.“ Längst sind Gitarren zu den Instrumenten seiner Wahl geworden. Mit der Indie-Band Jesh sammelte er erste unvergessliche Rock’n’Roll-Erfahrungen. „Das war so eine Hau-drauf-Band: viel rumgeschrien und harte Riffs. Aber es war eine geile Band“, beschrieb er die Anfänge einmal in einem Interview mit „music feels better together“. Und sie führte ihn sogar auf eine Tournee nach Kanada: „Das war der Hammer.“ Im Alter von 29 Jahren kam in feucht-fröhlicher Runde die Idee auf, seinen 30. Geburtstag mit einem eigenen Album zu feiern. Der vielleicht noch etwas wackelige Grundstein zu seinem Debütalbum „83“ war gelegt.
Es ist eine Sache, eine Schnapsidee zu haben, aber eine ganz andere, diese dann auch umzusetzen – und zwar gut. Hier war dem reisenden Träumer mit Vorliebe für kleine Schritte, oder seinem Unterbewusstsein, definitiv nach einem Sprung zumute gewesen. „Ein Album, dessen Wurzeln vom Bibelgürtel bis in die Täler und Hügel von Los Angeles reichen, wurde es. Passend für eine einsame Fahrt auf dem Interstate Highway 10 von Ost nach West“, beschrieb diese Publikation Anfang 2014 den Eindruck, der sich beim Zuhören seines Debüts einstellte. Wer sich den Druck auferlegt, ein ganzes Studioalbum von Grund auf innerhalb eines Jahres herauszubringen, der erfindet sich nicht neu. Dazu fehlt einfach die Zeit. Tobey Lucas besann sich auf die bis dahin wichtigsten musikalischen Einflüsse in seinem Leben, darunter Hotel California von den Eagles, den Gitarrensound von Tom Petty oder den vielseitigen Ryan Adams. Das Resultat war dann folgerichtig auch kein Country-Album, wie grob angedacht, aber ein Americana-Album. Und zwar ein gutes.
Der nächste Schritt, der Nachfolger „Little Steps And A Dream“, dessen Erscheinen eigentlich für 2016 geplant war, erschien nach einigen Verzögerungen erst im Frühjahr 2018. Viele Auftritte im Zuge von „83“, intensiver Gesangsunterricht sowie das Management und die Administration, was er alles selbst machte, nahmen viel Zeit in Anspruch. Privat lief es zeitweilig auch noch turbulent. Hinzu kam, dass 2017 ein erster Mix unbefriedigend ausgefallen war in seinen Augen. Mithilfe des Schweizer Erfolgsproduzenten Georg Schlunegger und neuer Produktionsideen ging es letztlich aber raus aus der zwischenzeitlichen Sackgasse, und über das Resultat urteilte Country Style damals im Mai 2018: „Auf der neuen Platte wendet er sich – bisweilen auch poppig – der eher rockigen Seite der Americana-Musik zu. Elf Songs, elf Treffer – so einfach ist das.“ Mit einem 18. Platz hinterliess er auch in den Schweizer Album-Charts erstmals Eindruck.
„Insgesamt mellow – weich, gedämpft – wirkt dieses schöne Album. Dennoch wird die sorgfältige Produktion, mit Georg Schlunegger an den Reglern, nie eintönig. Sein ruhiger Fluss passt genauso gut zu Yogaübungen im Sommer wie zu dunklen Wintertagen im Advent, wo Liebe und Hoffnung ja auch nicht ganz unwesentlich sind. Und weil es eine Pop-Produktion einer vielfältigen Singer/Songwriterin und eines Americana-Singer/Songwriters ist, geht es für einmal nicht um verflossene, sondern um Liebe, die lebt“, schrieb Country Style im Spätherbst 2020 zum überaus gelungenen Zusammenspiel „Two Of A Kind“ von Anna Känzig und ihm. Die Phase der engen Zusammenarbeit mit dem Erfolgsproduzenten von Hitmill brachte neue, poppigere Seiten bei Tobey Lucas zum Vorschein und belegte, dass mit Anna Känzig und ihm tatsächlich zwei vom selben Schlag am Werk waren, deren Arbeit grössere Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte. Das Coronavirus kümmerte das unglücklicherweise nicht im Geringsten.
Wie es sich mit den für ihn so wichtigen Auftritten im Jahresverlauf 2022 weiterentwickeln wird, ist vorerst noch ungewiss. Eine Normalisierung im Veranstaltungsbereich ab Frühling in den Sommer hinein und darüber hinaus wäre wohl das Best-Case-Szenario unter den herrschenden Umständen. Mit „Booking Flights“ und der neuen Single Lady Liberty haben er und seine Band jedenfalls Visitenkarten geschaffen, die Veranstalter anlocken müssten und einer Neupositionierung gewiss nicht abträglich wären. Daneben ist die kreative Kombination mit Anna Känzig noch keinesfalls ausgereizt. Ihm werden sich verschiedene Wege bieten für die nächsten Schritte. Zu verfolgen, in welche primäre Richtung und wann es für ihn weitergeht und ob auch ein Sprung vorwärts darunter sein wird, bleibt vorerst abzuwarten.